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KEIN NEUBAU DER B49 IM KREIS GIESSEN!

Plan mit manipulierten Zahlen


Rettet die Jossolleraue! · Parteien, Behörden, Betonfans · Die Trasse · Plan mit manipulierten Zahlen · Höfe/Natur/Erholung in Gefahr · Ausbaupläne für Grünberg · Alternativen: Bahn, Rad ... · Stand der Bauarbeiten · Aktivitäten · Materialien zur B49

Trotz vieler Nachteile soll die B49 im Gemeindegebiet Reiskirchen auf einer neuen Trasse mitten durch die Landschaft neu gebaut werden. Grund dafür war die Erwartung, dass sich die Verkehrsmengen auf der jetzigen B49 stark erhöhen würden. Doch das war gelogen. Denn Verkehrsmengen nehmen ab statt zu - und das hat nachvollziehbare Gründe: Durch den Bevölkerungsrückgang im Vogelsberg und den A5-Anschluss bei Grünberg ist die Verkehrsmenge auf der B49 bereits gesunken. Das ließe sich steigern durch innerörtliche Verkehrsberuhigung (Tempo 30 und Rückbau), die Stärkung der Vogelsbergbahn mit zusätzlichen Haltepunkten in Lindenstruth, Buseck-Ost und Rödgen sowie eine Ausweisung von Fahrradstraßen zwischen und in allen Orten (mit dem Rückgrat des „R7“ Fernradweges). Denn noch immer fahren viele PKW und LKW von oder nach Grünberg lieber über die B49 als über die A5.

Eines der Themenplakate zur B49

Behauptung im Plan: Verkehr steigt und steigt
Wahrheit: Verkehr nimmt ab
Die Planfeststellung einer Bundesstraße beruht auf der Bedarfplanung des Bundes. Diese befindet sich im Bundesverkehrswegeplan und ist verbindlich. Das regelt das Fernstraßenausbaugesetz:
§ 1 Abs. 2 Fernstraßenausbaugesetz - FStrAbG
Die in den Bedarfsplan aufgenommenen Bau- und Ausbauvorhaben entsprechen den Zielsetzungen des § 1 Abs. 1 des Bundesfernstraßengesetzes. Die Feststellung des Bedarfs ist für die Linienbestimmung nach § 16 des Bundesfernstraßengesetzes und für die Planfeststellung nach § 17 des Bundesfernstraßengesetzes verbindlich.

Das wird im Planfeststellungsbeschluss auch selbst erwähnt. Die Formulierung ist eindeutig: Die Planfeststellung muss auf dem Bedarfsplan (=Bundesverkehrswegeplan) beruhen - und sie tut es.

Dort, im verbindlichen Bedarfsplan, gibt es aber nur die völlig überhöhte Prognose von 2005. Denn der Bau der Umgehungsstraßen um Reiskirchen und Grünberg ist im Bundesverkehrswegeplan als vordringlicher Bedarf enthalten. Und bgegründet wird dieser Bedarf eben mit der Verkehrsprognose aus dem Jahr 2005. Die wiederum wurden vom Land Hessen an den Bund gemeldet (siehe Überschrift der folgenden Abbildung) - was ebenfalls spannend ist, da das Land Hessen unter dem Druck des Manipulationsvorwurfs im Jahr 2024 behauptete, diese Zahlen gar nicht zugrundegelegt zu haben..

Diese Zahlen wurden der Planfeststellungen, wie es das Gesetz ja auch vorschreibt, zu Grunde gelegt. Das wird in der Planfeststellung auch explizit an mehreren Stellen ausgeführt:

Erwähnung der 2005er-Prognose als Grundlage (Auszug Seite 20 oben, Seite 68 unten)

Auch an den weiteren Stellen der Planfeststellung, an denen die Zahlengrundlagen erwähnt werden, taucht immer nur die Verkehrsprognose aus 2005 auf - in Tabellenform oder Text.



Die benannten Prognosen, auf denen die Planung der Straße (wie gezeigt) beruhen, sind falsch. Statt der erwarteten Steigerung von über 30 Prozent ist es zu einer Abnahme des Autoverkehrs gekommen, besonders stark bei den LKW. Die Planung ist veraltet und beruht auf Zahlen, die überhöht sind – und die sich sich weiter verringern werden. Denn der Bevölkerungsschwund im Vogelsberg wird sich laut offiziellen Statistiken fortsetzen (siehe weiter unten).
Belege dafür, dass die realen Verkehrszahlen deutlich niedriger sind als die Prognosen und sogar als die Zahlen aus der Zählung von 2005, gibt es genug. Da sind zum einen die ganz offiziellen Straßenverkehrszählungen (SVZ). Sie werden alle fünf Jahre (kleine Abweichung wegen Corona im Zeitraum 2020/2021) deutschlandweit durchgeführt. Die Ergebnisse sind im Internet abrufbar. Danach nahm der Verkehr von 2005 bis 2010 deutlich ab.

Screenshot aus der Internetseite der Straßenverkehrszählungen (SVZ)

Im Jahr 2014 zählten wurden die Planer*innen offenbar misstrauisch und zählen selbst noch mal nach. Das Ergebnis bestätigt die SVZ-Daten: Der Verkehr nimmt ab.


Tabellen aus der Nachzählung von 2014: Oben Gesamtverkehrszahlen und neue Prognose, unten die noch stärker annehmenden LKW-Zahlen

Die nächste und aktuellste Bestätigung waren dann eigene Zählungen im April und Mai 2024. Sie ergaben für Reiskirchen eine durchschnittliche Verkehrsbelastung von 10413 Fahrzeugen pro Tag, und für Lindenstruth 7417 Fahrzeuge pro Tag. Das sind bemerkenswerte Abweichungen von den Prognosen, die ja für das Jahr 2020 erstellt wurden, also in 2024 schon hätten überschritten sein müssen.

Grafiken mit den realen Zahlen von 2005 (jeweils Blöcke links), den realen Zahlen von 2024 (Block rechts vorne) und den Prognosen für 2020 (Block links hinten) - dazu die Abweichung in Prozent


Zwei interessante Zufallsbelege für den deutlich geringeren Verkehr in Lindenstruth

Google-Streetview durch den Ort ... kaum Autos auf der Durchfahrt


Screenshot aus dem Interview mit dem Ortsvorsteher in der Hessenschau vom 9.9.2024 - in der gesamten Phase des Interviews fährt kein Auto vorbei

Der Skandal: Sie wussten, dass sie fälschen
Dass ihre Verkehrsprognosen falsch waren, war den Planer*innen, den Behörden und der Gemeinde Reiskirchen von Anfang an bekannt. Denn sie kannten die regelmäßigen Straßenverkehrszählungen (SVZ), die schließlich von HessenMobil selbst zusammengestellt wurden und werden - also von einem Teil der Behörde, die auch die Planfeststellung machte. Diese Zahlen zeigten schon 2005, dem Jahr des Beginns der Planungserstellung, dass der Verkehr in Reiskirchen und Lindenstruth abnahm. HessenMobil ist Teil des Hessischen Verkehrsministeriums und damit der Planfeststellungsbehörde selbst (siehe Wikipedia). Allerdings wollte die Planfeststellungsbehörde von den eigenen Zählungen nichts wissen. Weil (!) sie zu niedrig waren, wurden sie nicht beachtet. Das ist im Text erwähnt, die Nichtbeachtung eigener Zahlen also bewusst erfolgt.

2008 wurde die Behörde vom Ingenieurbüro RegioConsult auf die falschen Zahlen aufmerksam gemacht.

Auszüge aus dem Gutachten von RegioConsult (Tabelle und Textpassage dazu)

Die Angaben lagen der Planfeststellungsbehörde vor, aber die wischte alles arrogant beiseite. Statt die Zahlen zu überprüfen, erklärten sie RegioConsult einfach für inkompetent.


Dabei hatten die Planer*innen eigentlich von Anfang klar, dass sie für eine Straße mit abnehmenden Verkehr planen. Das zeigt eine Kurve, die sie schon 2005 zeichneten mit den Zahlen aus der Straßenverkehrszählung (SVZ). Bis zum Zeitpunkt der Kurvenerstellung (schwarzer Strich) verringerte sich die Menge bereits. Der Knick der Kurve wieder nach oben ist völlig willkürlich. Es gibt keinerlei Begründung - außer der Ideologie, unbedingt Straßen bauen zu wollen.

2014 zählten die Planer*innen, wie oben ausgeführt, selbst noch einmal nach und stellten fest: Verkehr nimmt ab. Doch sie ließen sich nicht beirren und machten ganz bewusst mit den falschen Zahlen weiter - aufgrund der gesetzlichen Vorgaben, dass sie weiter die Zahlen aus dem Bundesverkehrswegeplan nehmen mussten. Warum die dort nicht korrigiert wurden, ist unbekannt. Immerhin ist im Bundesverkehrswegeplan (siehe Abbildung oben) ja vermerkt, dass die (falschen) Zahlen vom Land Hessen kommen. Warum hat das Land Hessen dann keine neuen Zahlen dort eingespeist? Oder hat der Bund die Aufnahme verweigert? Hat am Ende das Land Hessen falsche Zahlen geliefert, um sich damit über den gesetzlichen Zwang, die Zahlen dann auch verwenden zu müssen, selbst zu binden? Wenn die Zahlen nämlich in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen worden sind, müssen sie auch verwendet werden - egal ob sie richtig oder, wie hier, völlig falsch sind.
So oder so: Eine solche Planung ist willkürlich und, da den Beteiligten der Fehler bekannt war, nichtig. Der Bau darf nicht durchgeführt werden!

Behauptung von HessenMobil in 2024: Haben die 2014er-Zahlen verwendet
Wahrheit: Einfach gelogen!
Im August 2024 veröffentlichten Verkehrswende-Aktive nach langer Recherche ihre Erkenntnisse über die falschen Zahlengrundlagen der Neubauplanung der B49. Sie erschienen an mehreren Stellen, unter anderem im Gießener Anzeiger am 27.8.2024.

Pressebericht im Gießener Anzeiger am 27.8.2024 ++ Kommentar darunter:
Eine Straße, die keiner braucht
Wenn ich in jüngster Zeit durch Reiskirchen gefahren bin, habe ich eher unterschwellig registriert, dass man heute schneller durch den Ort kommt als noch in den 90-er Jahren, da war das mitunter eine rechte Quälerei. Ich weiß, das ist nur eine anekdotische Evidenz, doch sie wird mittlerweile durch ein halbes Dutzend Verkehrszählungen bestätigt. Diese Zahlen, ob nun von Verkehrswendeaktivisten oder Hessen Mobil selbst ermittelt, lassen sich in einem Satz zusammenfassen. Ganz nüchtern betrachtet hat sich die Ortsumgehung der B 49 erledigt. Sie wird schlicht und ergreifend nicht gebraucht. Überflüssig gemacht wurde die rund 25 Millionen Euro teure 4,24 Kilometer lange Straße quer durch den letzten Naherholungsraum, der dem seit Jahren expandierenden Reiskirchen geblieben ist, durch ein paar Meter Asphalt. Mit dem Bau der Autobahnabfahrt Grünberg muss ein Großteil des Schwerlastverkehrs nicht mehr durch die engen Ortslagen fahren und dort Fußgänger oder Radfahrer gefährden. Tendenziell dürfte auch der Pendlerverkehr aus dem Vogelsberg weiter abnehmen.
Das Geld für die Südumfahrung lässt sich weit sinnvoller investieren, ob nun für eine Stärkung der Vogelsbergbahn und einen Ausbau des Radwegnetzes, was weiteren Verkehrs aus den Ortslagen ziehen würde oder für verkehrsberuhigende Maßnahmen in den Ortsdurchfahrten oder für die Sanierung maroder Straßen und Brücken deren Zahl in den nächsten Jahren deutlich zunehmen wird. Allein der Unterhalt des jetzt schon dichtesten Straßennetzes der Welt dürfte Planer und Baufirmen also auf Jahrzehnte auslasten.
Nun sind Prognosen bekanntlich schwierig, zumal wenn sie die Zukunft betreffen. Erschreckend ist aber die Renitenz und Sturheit, mit der die Planer bei Hessen Mobil dem einmal eingeschlagenen Pfad folgen, erschütternd die Flapsigkeit, mit der sie jeden noch so gut begründeten Einwand gegen das Projekt vom Tisch gewischt haben. Wenn das keine Ausnahme sondern der Regelfall sein sollte, wirft das kein gutes Licht auf den ganzen Bundesverkehrswegeplan. Die B 49 ist genehmigt und beschlossen. Doch Baurecht heißt nicht Baupflicht und neue Realitäten erfordern neue Entscheidungen. Stoppen kann die Umgehungsstraße die Politik. Noch ist kein Bagger gerollt, kein Meter asphaltiert. Das unterscheidet die B 49 von der A 49, deren Bau vor einigen Jahren nur mit einem riesigen Polizeiaufgebot durchgesetzt werden konnte. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hatte damals entschieden, dass die A 49 zwar nach heutigen Maßstäben nicht mehr genehmigungsfähig sei, aber angesichts des fortgeschrittenen Baus fertiggesellt werden dürfe. Das gilt für die B 49, wie gesagt, nicht, und wer A sagt, der muss noch lange nicht B sagen.

Neben dem Artikel im Gießener Anzeiger erschienen mehrere Dokufilme über den geplanten Straßenbau und die falschen Zahlen, unter anderem auf Youtube und im Offenen Kanal. HessenMobil reagierte auf diese Veröffentlichungen mit der Behauptung, es würde gar nicht stimmen, dass die 2005er-Prognose der Planung zugrundeliegt, sondern die neueren Zahlen von 2014. Doch das stimmte nicht. Denn erstens wäre es ein Verstoß gegen das Fernstraßenausbaugesetz gewesen, einfach andere Zahlen als im Bundesverkehrswegeplan (=Bedarfsplan) zu verwenden. Das ist ja sogar im Planfeststellungsbeschluss selbst deutlich beschrieben:

Tatsächlich werden dann im Planfeststellungsbeschluss als Datengrundlage immer nur die Prognosezahlen von 2005 (fü 2020) benutzt - und das auch klar ausgesagt, dass die die Grundlage bieten:

Weitere Beispiele bereits oben abgebildet.

Es ist also eindeutig: Der Planfeststellung liegen die Zahlen von 2005 (reale Zahlen und Prognose für das Jahr 2020) zugrunde. Wie in der Hessenschau vom 9.9.2024 wiedergegebene Stellungnahme von HessenMobil, dass sie die Zahlen von 2014 verwendet hätten, ist eine Lüge.

Behauptung: Die Umgehungsstraße brächte bis über 80 Prozent Entlastung
Wahrheit: Erstens durch nichts belegt, zweitens sehr unwahrscheinlich
In den Medien, der Planfeststellung und anderen Planunterlagen geistern unterschiedliche Zahlen herum, wie stark die bisherige B49 in Reiskirchen bzw. in Lindenstruth entlastet würde. Klar ist, dass es auf jeden Fall eine Entlastung gibt. Allerdings erfolgt die auf Kosten anderer, zum einen der Orte Hattenrod und Burkhardsfelden, aber auch der Bewohner*innen am Südrand von Lindenstruth und Reiskirchen.
An keiner Stelle der behaupteten Prozentzahlen, die um die 60 Prozent für Reiskirchen und um 80 Prozent für Lindenstruth liegen, wird erklärt, wie die berechnet wurden. Für Reiskirchen lassen sich die Zahlen aus den Planungsunterlagen widerlegen, während für Lindenstruth zumindest einzelne unseriöse Daten erkennbar sind.

Reiskirchen: Zwei Drittel der Autos bleiben auf der alten Trasse
Für Reiskirchen liegen genaue Zahlen darüber vor, wer von den westlich in den Ort fahrenden Menschen wohin will. Die Planfeststellung stellt selbst fest, dass zwei Drittel im Ort verbleiben. Deren Fahrzeuge würden also weiter auf der B49 fahren - macht ein Drittel Entlastung statt der behaupteten zwei Drittel. Grundlage für die Aussage im Text ist eine Befragung am Ortseingang. Auf einer Karte wurde eingezeichnet, wer dann wo langgefahren ist. Am Ende des Ortes ist nur noch ein Drittel der Fahrzeuge vorhanden, der Rest fährt durch die Nebenstraßen in Reiskirchen zum Ziel. Eine Umgehungsstraße hilft also wenig.

Text (oben) und Verkehrsflusskarte aus den Planunterlagen (unten)

Lindenstruth: Blindstellen um die Firma WeissTechnik
Auf den meisten Karten mit Verkehrszahlen ist die Zufahrt zur Firma WeissTechnik (Greizer Straße) einfach weggelassen.

Dabei erzeugt die ständig wachsende Firma mit aktuell bereits 1200 Arbeitsplätzen (Aussage des Ortsvorstehers am 10.9.2024) angesichts dieser Größe für vermutlich mehrere Tausend Fahrbewegungen - und damit mehr, als in den Prognosen für den Fall des Baus der Umgehungsstraße insgesamt durch Lindenstruth fahren. Das beweist bereits: Die hohen Prozentwerte stimmen auf keinen Fall. Sind die Bewegungen von WeissTechnik einfach weggelassen worden? Wenn ja: Warum?
Es wird aber noch merkwürdiger. Auf dem Plan der Verkehrsabnahmen durch die Umgehungsstraße wird der Verkehr zu Firma mit -528 angegeben. Es fahren weniger Fahrzeuge zu Firma, wenn auf der anderen Seite des Ortes eine neue Straße gebaut wird? Wir das? Fliegen die von der Umgehungsstraße zur Firma?

Die Zufahrt zur FirmaWeiss führt über die bisherige B49-Trasse. Eine Umfahrung des Ortes ist nicht möglich. Der gesamte Firmenverkehr verbleibt also im Ort. Das gilt auch für den Binnenverkehr und den Verkehr der Lindenstrüther*innen Richtung Westen. Die alte B49 ist deutlich kürzer als der Umweg, zunächst Richtung Osten aus dem Ort heraus zu fahren und dann die Umgehungsstraße zu nehmen.

Hausgemachtes Problem
Der Durchgangsverkehr durch Lindenstruth und vor allem Reiskirchen nimmt laufend ab. Dass es trotzdem noch viel zu viele Autos sind, liegt zu großen Teilen daran, dass neue Gewerbe- und Baugebiete wie Pilze aus dem Boden wachsen. Reiskirchen ruiniert Lebensqualität und Umwelt, nur um Steuereinnahmen zu haben, die dann wieder in neue Baugebiete investiert werden.

Ausschnitt aus den Planungsunterlagen: Zuwächse an Verkehr durch neue Baugebiete

Dass die Wirkung von Umgehungsstraßen überschätzt wird, ist weit verbreitet. Zum einen wird der durch Straßenbau induzierte zusätzliche Verkehr vergessen, zudem wird davon ausgegangen, dass alle, die auf einer Seite in einen Ort und auf der anderen Seite wieder herausfahren, die Umgehungsstraße nutzen würden. Das geschieht aber oft nicht - zum einen, weil die Strecke durch den Ort kürzer ist, zum anderen, weil viele noch irgendeine kleine Einzelbesorgung oder Ähnliches im Ort erledigen wollen.
Ein beeindruckendes Beispiel liefert Lollar. Der Ort hat durch die B3a mit Anschlussstellen an beiden Seiten des Ortes eine vollständige Ortsumfahrung erhalten - aber trotzdem fahren weiter über 12000 Fahrzeuge auf der alten Strecke im Ort. Die Aufenthaltsqualität ist dort immer schon schlecht, die Gefahren für Fußgänger*innen und Radler*innen sind hoch.

Screenshot aus der Internetseite der Straßenverkehrszählungen (SVZ)

Stefan Bratzel, Forscher und Dozent an der Fachhochschule für Wirtschaft in Bergisch Gladbach, über Straßenneubauten, die Entlastungen versprechen, im Interview mit der Zeit am 11.4.2024
Wenn eine neue Kapazität geschaffen wird – zum Beispiel eine neue Straße oder eine neue Spur auf der Autobahn –, gibt es aus drei Gründen mehr Verkehr. Der erste: Die Leute, die vorher andere Routen benutzt haben, nutzen jetzt diese neue oder breitere Straße, weil ihre Fahrzeit da geringer ist. Der zweite Effekt entsteht durch Fahrten, die vorher gar nicht gemacht wurden, weil es zu lange gedauert hätte. Und der dritte Effekt ist langfristig und strukturell. Weil ich neue Verkehrsadern geschaffen habe, wird es attraktiver, weiter weg zu wohnen. Die Wege zur Arbeit und zu Freizeitaktivitäten werden länger. Und schon ist die neue Straße wieder voll. Dann versucht man, auch diesen Stau wieder durch Straßenausbau zu beheben.

Sind sogar die niedrigeren Zahlen aus der SVZ noch nach oben manipuliert?
Die Zahlen der Straßenverkehrszählung widerlegen die Verkehrsprognosen der B49-Planung. Doch sie selbst stehen auch bereits unter dem Verdacht, zu hoch angesetzt zu sein - jedenfalls betreffend der letzten Zählung in 2021. Zunächst irritieren bereits die bis 2010 deutlich abnehmenden Verkehrszahlen, während es dann plötzlich ganz schnell wieder nach oben geht. Der Verdacht der Manipulation erhärtet sich beim Blick auf die umgebenden Zählpunkte, denn vor und hinter dem für die Umgehungsstraße relevanten Messpunkt sind die Verkehrszahlen im gleichen Zeitraum geringer geworden. Wo kommen die zusätzlichen Autos zwischen Lindenstruth und Reiskirchen her, wenn rundherum die Zahlen sinken - und wo verschwinden sie? Alle Straßenzählungen rundherum weisen abnehmende Zahlen auf, nur der eine Punkt nicht ... (Quelle der Verkehrszählungen (interaktive Verkehrsmengenkarte))

Oben: Die Zahlen für Reiskirchen und die Zählstellen beidseits davon
Unten: Zahlen und Prozentvergleiche 2015 und 2021 für Zählpunkte rundherum

Verkehr auf B49 nimmt ab - aber warum?
Jahrzehntelang wurde auf das Auto gesetzt. Politik und Planung waren darauf ausgerichtet. Fast überall nahm der Verkehr zu. Neue Straßen sollten das lösen, brachten aber nur mehr Verkehr. So wurde auch die Umgehungsstraße für Reiskirchen und Lindenstruth in der Erwartung gebaut, dass es immer mehr Autos würden. Doch das Gegenteil trat ein. Das mag zunächst überraschend, hat aber nachvollziehbare Gründe.

Bevölkerung im Vogelsberg nimmt ab
Seit Jahren schrumpft die Zahl derer, die im Einzugsbereich der östlichen B49 liegen. Die offizielle Statistik prognostiziert eine weitere Abnahme der Bevölkerung im Vogelsbergkreis im Zeitraum 31.12.2014 bis 31.12.2030 von 14,4 Prozent. Zudem wächst der relative Anteil älterer Menschen, für die das Auto oft nicht das passende Verkehrsmittel darstellt, sondern eher ein guter ÖPNV (leider ist der zurzeit nicht gut ausgebaut. Der Verkehr auf der B49 würde also vermutlich weiter abnehmen - es sei denn, die autoorientierte Politik zwingt die weniger werdenden Menschen zu mehr Fahrten.

Aus "Statistische Berichte: Regionalisierte Bevölkerungsvorausberechnungfür Hessen bis 2030"

Zweiter Grund: Neue Abfahrt "Grünberg" an der A5
Die Orte Reiskirchen, Lindenstruth und Grünberg sind schon jetzt über die A5 umfahrbar (Landesstraßen von B49 zu Anschlussstellen der A5). Das nutzen inzwischen auch viele, so dass ein Teil des früheren Verkehrs jetzt die Autobahn nimmt. Das lässt sich noch erweitern, denn allein ca. 3000 Fahrzeuge, die durchschnittlich pro Tag durch LIndenstruth und Reiskirchen rauschen, stammen aus dem Grünberger Raum. Eine strikte Verkehrsberuhigung des Streckenverlauf im Gemeindegebiet Reiskirchen könnte diese auf die A5 bringen.

Umgehung wirkungslos, denn Verkehr ist hausgemacht
Die Anwohner*innen an der B49 stöhnen zu Recht über den Verkehr. Aber der ist zu großen Teilen hausgemacht: Die, die da stöhnen, sind auch Mitverursacher*innen. Entlang der B49 sind die Zahlen sehr dramatisch: 82 Prozent = 3389 der beschäftigten Reiskirchen*innen fahren zum Arbeiten an einen anderen Ort, 1108 davon nach Gießen. Nicht viel anders in Grünberg: 77 Prozent = 4055 arbeiten außerhalb, 982 davon in Gießen. So geht es auch im Vogelsberg weiter: 76 Prozent der Beschäftigen in Mücke pendeln, immerhin noch 481 nach Gießen. Sie alle könnten die Vogelsbergbahn nehmen oder den Radweg "R7". Beide müssten dafür aber besser angebunden sein auch an die verschiedenen Ortsteile. Noch wirksamer wäre, wenn Arbeitsplätze und Infrastruktur zurück in die Orte kommen.

Absurd: Zwei parallele Straßen ausbauen - Bahn vernachlässigen
Zudem soll auch die A5 ausgebaut werden - und zwar genau von der Anschlussstelle Reiskirchen bis zur demnächst fertiggestellten Autobahn A49, für die Teiles des "Danni" zerstört wurden. Wie bei der A49 stimmte die Landesregierung (grüner Verkehrsminister) auch diesem Ausbau zu. Die A5 und die B49 verlaufen in diesem Streckenabschnitt weitgehend parallel - und zudem parallel zur Vogelsbergbahn und zum Radweg "R7". Es werden also zwei Straßen, die zum gleichen Ziel führen, ausgebaut, während die jahrzehntelang vernachlässigte und heruntergeschrottete Bahnlinie nicht beachtet wird.

A5 und B49 laufen nebeneinander her und kreuzen sich mit Anschlusstellen an beiden Seiten. Der A5-Ausbau ist eine Folge des A49-Baus. Rot sind die Ausbaustrecken (Umgebungsstraßen Reiskirchen in Bauvorbereitung, U-Straße Grünberg für später geplant; A5 soll sechsspurig werden - der letzte Ausbau mit 4 Streifen plus Standspur wurde in diesem Bereich erst 2009 abgeschlossen ... so schnell entwickelt sich das). ++ A5-Ausbau auch Richtung Frankfurt

Zusatzgefahr: Straße würde neue Industrieflächen erschließen
Die Gemeinde Reiskirchen ist blindwütig geil auf immer neue Industrieansiedlungsflächen. Den Gewerbeeinnahmen werden seit Jahrzehnten Mensch und Natur geopfert. Mit der Umgehungsstraße würden die Flächen südlich der Bahnlinie, aber nahe an der Autobahnzufahrt erschlossen - und damit die Gefahr neuer Gewerbeansiedlungen und Flächenversiegelung heraufbeschworen.
Das weiter geklotzt (bzw.: betoniert) werden soll, zeigte auch der Bürgermeisterwahlkampf im Jahr 2024. Beide Kandidaten antworten auf die Frage, wie sie die Finanzierung der Gemeinde absichern wollen: Mehr Gewerbegebiete (Quelle: Gießener Anzeiger am 22.8.2024). Also auch mehr Flächenversiegelung, Naturzerstörung und Verkehr. Beschlossen hat das Gemeindeparlament bereits, Photovoltaik-Anlagen entlang aller Straßen zuzulassen. Jede Anlage darf bis zu 20 Hektar groß sein. (Quelle: Gießener Anzeiger am 7.6.2024)

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