Verkehrswende im Wiesecktal

DEMOKRATIE IST EINE HERRSCHAFTSTECHNIK

Machtförmigkeit ist kein Geheimnis


1. Zitate
2. Machtförmigkeit ist kein Geheimnis
3. Einfluss der Menschen gering bis Null
4. Gesteigert: Repräsentative Demokratie
5. Demokratische Gesellschaft und ihre Machtverhältnisse
6. Demokratie, Rechtsstaat und Diktatur
7. Herrschaft ist selbst Grund seiner Ausübung
8. Links zu Alternativen, kreativem Widerstand usw.

Freiheitlich-demokratische Grundordnung
Aus dem ersten Parteiverbot des Verfassungsgerichts (SRP, 1952), zitiert in: Himmelmann, Gerhard (2001), "Demokratie lernen", Wochenschau Verlag in Schwalbach (S. 242)*
Eine Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt.

Aus Zakaria, Fareed (2007): Das Ende der Freiheit?, dtv München (S. 15)
Überall auf unserem Planeten setzen sich demokratisch gewählte, wiedergewählte oder durch Volksentscheide gestützte Regime über die verfassungsrechtlichen Schranken ihrer Macht ebenso regelmäßig hinweg wie über die Grundrechte ihrer Bürger. Diese alarmierende, von Peru bis Palästina, von Ghana bis Venezuela zu beobachtende Praxis läßt sich mit dem Begriff "unfreie Demokratie" fassen.
Sprechen wir im Westen von Demokratie, so denken wir stets das Attribut freiheitlich mit . Wir meinen damit ein politisches System, das sich nicht nur durch freie, gleiche Wahlen, sondern auch durch Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung sowie durch Grundrechte auszeichnet, die neben dem Eigentum unter anderem die Meinungs-, Versammlungs- und Glaubensfreiheit schützen. Solche konstitutionell verbrieften Rechte haben jedoch per se nichts mit Demokratie zu tun. Selbst im Abendland sind die beiden Prinzipien nicht immer Hand in Hand gegangen. Daß Hitler Reichskanzler wurde, war letztlich ein Ergebnis freier Wahlen. Erst während des vorigen halben Jahrhunderts sind Freiheit und Demokratie zumindest im Westen zur freiheitlichen Demokratie verschmolzen. In jüngster Zeit fallen diese beiden Hauptstränge unseres politischen Gefüges rund um den Globus wieder auseinander. Die Demokratie blüht, die Freiheit nicht.


Chefredakteur Thomas Schmid in: Die Welt, 8.12.2010
Das Volk regiert dann am besten, wenn es nicht regiert, wenn es auf kluge Weise seine Macht abgibt.


Aus Bernhard Pötter, "Mehr Ökokratie wagen", in: Freitag, 2.12.2010 (S. 6)
Da liegt ein Denkfehler vor. Denn das Wesen der Demokratie ist eben auch die Einschränkung. Grenzenlose Freiheit dagegen ist ein Zeichen der Anarchie.

Ausnahmezustand
Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Carl Schmitt

Der Ausnahmezustand ist ein Paradox - er hebt einerseits die geltende Rechtsordnung auf, basiert aber gleichzeitig auf ihr. Andersherum ausgedrückt: Rechtsstaatlichkeit ist genau nicht die Garantie dafür, dass sie auch gilt, sondern bietet genau durch das Recht die Handlungsmöglichkeiten, das Recht nicht nur zu verändern, sondern auch zu missachten. Wo der Ausnahmezustand verhängt ist, herrscht das, was in Demokratien verächtlich Diktatur genannt wird. Die aber ist nicht die Abwesenheit von Recht, sondern die Suspendierung der Bürgerrechte durch das Ausnahmerecht, welches selbst aber Recht ist. Noch schlimmer: Ausnahmerecht vereint in der Regel die ohnehin nur propagandistisch getrennten Gewalten. Wer den Ausnahmezustand verhängt, kann danach selbst Recht schaffen. Recht ist immer auch das Recht auf Ausnahme.

Beispiele für Ausnahmezustände - ausgesprochen oder einfach vollzogen:
  • Machtübernahme durch Notstandsverordnung durch die Nationalsozialisten am 28. Februar 1933
    "Die Notverordnung wurde nie widerrufen, so daß man das Dritte Reich vom juristischen Standpunkt aus als Ausnahmezustand betrachten kann, der sich zwölf Jahre lang hinzog."
  • Im Deutschen Herbst jagten Behörden der BRD die reale und das Phänomen RAF, ohne sich um Recht und Gesetz zu scheren. Der Ausnahmezustand war nie ausgesprochen. Alle Beteiligten vermieden, irgendeine Überprüfung z.B. vor dem Verfassungsgericht vorzunehmen.
  • Per Akklamation wurde durch die führenden Industrienationen im internationalen Völkerrecht der Passus des Krieges für Menschenrechte eingeführt. Eine Rechtsgrundlage dafür existiert nicht. Der Ausnahmezustand wurde mitunter erklärt (formale Erklärung des Verteidigungsfalles nach dem 11.9.2001) oder einfach praktiziert (Krieg gegen Jugoslawien 1999). Die praktische Realisierung erfolgte immer auch auf der Basis, dass eine Rechtsperson, die den Ausnahmezustand juristisch angreifen könnte, später nicht mehr existierte oder zum Nichthandeln gezwungen werden könnte.
  • Nach den Anschlägen auf die Türme des World Trade Center am 11. September 2001 richtete die US-Regierung rechtsfreie Zonen ein. Das Gefangenenlager in Guantanomo an der Küste Kubas ist ein rechtsfreier Raum (kein US-Recht, kein Kriegsrecht - gar nichts; die dortigen Menschen sind formal nicht mehr existent), der aber aufgrund des Rechts existiert.

Diktatur ist Recht
Aus Giorgio Agamben, "Ausnahmezustand", Suhrkamp in Frankfurt (S. 8)
... kann der moderne Totalitarismus definert werden als die Einsetzung eines legalen Bürgerkriegs, der mittels des Ausnahmezustands die physische Eliminierung nicht nur des politischen Gegners, sondern ganzer Kategorien von Bürgern gestatt, die, aus welchen Gründen auch immer, als ins politische System nicht integrierbar betrachtet werden.

Globale Herrschaft
Aus Giorgio Agamben, "Ausnahmezustand", Suhrkamp in Frankfurt (S. 8 f.)
Seither ist es für die Staaten der Gegenwart zu einer wesentlichen Praxis geworden, willentlich einen parmanenten Notstand zu schaffen (wenn er vielleicht auch nicht im strikten Sinn ausgerufen wird), auch für die sogenannten demokratischen. Angesichts der unaufhaltsamen Steigerung dessen, was als "weltweiter Bürgerkrieg" bestimmt worden ist, erweist sich der Ausnahmezustand in der Politik der Gegenwart immer mehr als das herrschende Paradigma des Regierens.

Exekutive = Legislative
Aus Giorgio Agamben, "Ausnahmezustand", Suhrkamp in Frankfurt (S. 12)
Der Ausdruck "Vollmacht" (pleins pouvoirs), mit dem man manchmal den Ausnahmezustand charakterisiert, bezieht sich auf die Ausdehnung der Regierungsbefugnisse und insbesondere darauf, daß de Exekutive die Befugnis zu Erlassen erteilt wird, die Gesetzeskraft haben.

Demokratie ... Herrschaftsbrille abgesetzt!
Aus Gebhardt, Jürgen/Münkler, Herfried (1993), "Bürgerschaft und Herrschaft", Nomos in Baden-Baden (S. 7)
Die Frage nach der Beziehung zwischen Macht und Demokratie gehört zu den in der politischen Ideengeschichte und politischen Theorie auffällig wenig bearbeiteten Themenfeldern ...

Demokratie ist immer machtförmig
Aus Christian Meier, "Die Parlamentarische Demokratie", dtv in München (S. 16, 19, 257)
Die Vermittler ab er, Regierung wie Parlament, gewinnen bei dieser Tätigkeit unvermeidlich eine Menge Macht, die sie auch uns gegenüber ausüben können. Durch sie herrschen wir, durch sie werden wir beherrscht. ...
... es wäre ein großer Fehler, auf diesen Sachverstand, diese Erfahrungen und auch auf eine gewisse Kontinuität ihrer Weitergabe an jeweils jüngere Parlamentarier zu verzichten. Nur bedeutet das eben ugmekehrt, daß die Repräsentanten an Überlegenheit gegenüber den Repräsentierten gewinnen. Längerfristige Ausübung sachlicher Kompetenz und Macht lassen sich kaum voneinander trennen. Und selbst wenn man eventuell für das Parlament eine zeitliche Begrenzung der Zugehörigkeit festsetzen könnte, wird sich das kaum auf die leitenden Positionen in den Parteien ausdehnen lassen. Eben dort aber massiert sich ohnehin schon ein Großteil der Einflußmöglichkeiten und der Ämterpatronage. Und manchens davon ist sogar dringen vonnöten, da die Parteien im Hinblick auf das Ganze, das sie zu bedenken haben, ein gewisses Eigengewicht brauchen, nicht zuletzt um den Einflüssen von Lobbies gegenzuhalten. Man darf diese Macht nicht aus dem Parlament verbannen. Im Gegenteil, sie gehört geradezu dorthin. ...
... in diesem Sinne möchte ich für diese Demokratie ... sehr entschieden plädieren. Man hat allen Anlaß, ihre Fähigkeiten herauszustreichen, stabile Regierungen hervorzubringen sowie den Wechsel zwischen Regierungsparteien zu ermöglichen; denn das versteht sich nicht von selbst.


Aus Ellwein, Thomas (1967): "Politische Verhaltenslehre", W. Kohlhammer in Stuttgart (S. 218 ff., mehr Aus dem Text ...)
Demokratie hat die Tatsache der politischen Herrschaft nicht beseitigt. Wo es Menschen gibt, gibt es Herrschaft und damit auch Beherrschte. Sie sind der Herrschaft ‘untertan’ und müssen ihr gehorchen. Wir wenden uns zwar gegen die ‘Untertanengesinnung’, können damit aber nicht den Gehorsam aus der Welt schaffen, sondern nur den ‘untertänigen Gehorsam’ überwinden. ‘Untertanengesinnung’ äußert sich in Anbetung der Macht oder der politischen Führung, in Kritiklosigkeit aus Prinzip oder aus Angst vor der Gewalt und endlich darin, daß jedem Gebot der Obrigkeit gefolgt wird. Der Gehorsam des Bürgers in der Demokratie ist von anderer Art. Er ist idealiter vom Bürger sich selbst auferlegt und nicht von anderer Seite; tatsächlich ist er ein Gehorsam aus Einsicht, was nicht ausschließt, daß "die Einsichtigen den Uneinsichtigen deren Gehorsam aus Einsicht auferlegen werden" müssen ...
Eines hat der gehorsame Bürger aber mit dem Untertan gemeinsam: Politisch ist die Tatsache des Gehorsams entscheidend, auf die Motive kommt es erst in zweiter Linie an. Ob jemand die Straßenverkehrsordnung aus Einsicht in deren Notwendigkeit einhält oder weil er es so gelernt hat oder weil er die Polizei fürchtet, ist im Blick auf die Funktion des Gesetzes zunächst gleichgültig. ...
Gehorsam ist also unerläßlich: Er unterwirft den Bürger dem Gesetz und dem, was dem Gesetz gemäß von ihm verlangt wird. Das gilt in aller Unerbittlichkeit. Deshalb gibt es politisch einzig und allein die staatliche Gewalt, von ihr ist alle andere Gewalt abgeleitet oder sie ist politisch illegitim. Allerdings schließt dieser Gehorsam in der rechtsstaatlichen Demokratie eben auch ein, dem Gesetze folgend zu prüfen, was diejenigen tun, die ein Amt haben.


Aus Georgio Agamben, „Einleitende Bemerkung zum Begriff der Demokratie“, in: Georgio Agamben u.a. (2012), „Demokratie?“ (S. 11)
Wenn wir heute Zeugen einer überwältigenden Vorherrschaft von Regierung und Ökonomie über eine sukzessive entleerte Volkssouveränität werden, dann möglicherweise deshalb, weil die westlichen Demokratien jetzt den Preis für ein philosophisches Erbe bezahlen, das sie unbesehen angetreten haben.

Mächtiger "Leviathan" - zu HobbesAus Euchner, Walter, „Individuelle und politische Macht: Der Beitrag John Lockes im Vergleich zu Hobbes und Spinoza“ in: Gebhardt, Jürgen/Münkler, Herfried (1993), "Bürgerschaft und Herrschaft", Nomos in Baden-Baden (S. 122; ohne Fussnoten, mehr Auszüge ...)
Bereits das Gesetz der Natur wendet das natürliche Selbsterhaltungsrecht in eine Verpflichtung, sich im Einklang mit den Einsichten der Vernunft selbsterhaltungsfördernd zu verhalten. Dementsprechend besteht auch die Verpflichtung, Befehlen des lebenserhaltenden "Leviathan", abgesehen von den oben erwähnten Grenzfällen, zu gehorchen. Hobbes begründet diese Verpflichtung so stark wie irgend denkbar. Es ist Bestandteil der Vertragsformel, daß die Vertragschließenden alle Handlungen und Unterlassungen des Souveräns als ihre eigenen anerkennen; Widerstand dagegen wäre demnach Widerstand gegen eigenes Verhalten, was widersinnig ist.

Aus Besson, W./Jasper, G. (1966), "Das Leitbild der modernen Demokratie", Paul List Verlag München (herausgegeben von der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung)
In den Spitzenpositionen des Staatsapparates verlangt diese von den Inhabern der Ämter die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Führung des Volkes, zur Bestimmung der Richtlinien der Politik. Gerade die Demokratie braucht eine starke und entschiedene Führung, die freilich immer dem Volk verantwortlich und darum auch öffentlicher Kritik ausgesetzt bleibt und vom Volk her letztlich ihre Kompetenzen ableitet. Handeln und führen ist die Pflicht der Amtsträger. Führerlosigkeit in der Demokratie hat katastrophale Folgen.

Spinoza über die Notwendigkeit und Legitimität von Machtausübung
Aus Euchner, Walter, „Individuelle und politische Macht: Der Beitrag John Lockes im Vergleich zu Hobbes und Spinoza“ in: Gebhardt, Jürgen/Münkler, Herfried (1993), "Bürgerschaft und Herrschaft", Nomos in Baden-Baden (S. 128; ohne Fussnoten, mehr Auszüge ...)
Drittens ist schließlich der Status des politischen Willens in Spinozas Demokratie zu bedenken. Gemäß dem naturalistischen Duktus der Argumentation besitzt die Summa Potestas (als Einzelperson oder Personenmehrheit) als einzige das Naturrecht auf alles, das die anderen aufgeben mußten, und zwar in aggregierter Form. Hinzu kommt die rationalistische Konstruktion der Entstehung eines Rechtssystems, das den Maßstäben der menschlichen Vernunft gerecht wird. So gesehen ist der politische Wille die vernünftige Form der aggregierten potentiae der Bürger. Diese Eigenschaft begründet eine Superlegitimation der Machthaber, ihrer Gesetze und ihrer Urteilssprüche und Entscheidungen, gegen die Widerstand undenkbar ist.

Aussage von Proudhon, zitiert in: Grosche, Monika (2003): "Anarchismus und Revolution", Syndikat A in Moers (S. 19)*
Die Demokratie ist nichts weiter als ein konstitutionalisierter Willkürherrscher.

Aussage von Bakunin, zitiert in: Grosche, Monika (2003): "Anarchismus und Revolution", Syndikat A in Moers (S. 36, 54)*
Der Despotismus einer Regierung ist niemals furchterregender und gewalttätiger, als wenn er sich auf die sogenannte Repräsentation des Pseudovolkswillens stützt. ...
Das Volk wird kein leichteres Leben haben, wenn der Stock, der es schlägt, seinen eigenen Namen trägt.


Zitat von Locke, John in "Zwei Abhandlungen über die Regierung", zitiert in: Gebhardt, Jürgen/Münkler, Herfried (1993), "Bürgerschaft und Herrschaft", Nomos in Baden-Baden (S. 165)
Denn wo die Majorität nicht auch die übrigen verpflichten kann, kann die Gesellschaft nicht als einziger Körper handeln und wird folglich sofort wieder aufgelöst werden.

Mehr davon ... die Macht des Volkes stärken!
Aus Alt, Franz: "Die Ökologie wird die intelligentere Ökonomie" in: Humanwirtschaft 2/06 (S. 22)
Unsere eigentliche Ohnmacht ist, dass wir uns die Macht des Volkes nicht zutrauen.

Aus der Multiplikatorenmappe "Demokratie", Wochenschau Verlag in Schwalbach 2003 (S. 3, mehr Zitate)
Wenn man über Demokratie spricht, sollten zunächst Utopien ausscheiden. Utopisch ist die Vorstellung des autarken - und daher auch autonomen - Einzelnen. Realistischerweise ist nicht von Robinson auf seiner Insel auszugehen, sondern von einer verstädterten Millionenbevölkerung, wobei die Menschen mannigfach gesellschaftlich abhängig sind (wer kann im modernen Leben auch nur seine Nahrungsmittel selbst produzieren, von allen anderen Bestandteilen der so genannten Daseinsvorsorge ganz zu schweigen?). Ebenfalls utopisch ist die Idee, eine solche große und komplexe Gesellschaft könne sich herrschaftsfrei selbst organisieren: der Traum der Anarchisten, aber auch die Prophezeiung der Klassiker des Kommunismus, wonach der Staat dereinst absterben und an die Stelle der Regierung über Personen nur "die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen" treten sollte (...). Dass die Entwicklung im real existierenden Sozialismus" in die entgegengesetzte Richtung einer immer stärkeren Rolle des Staates verlief, sei nur nebenbei festgehalten. Der Anschauungsunterricht der Gegenwart aus Ländern, in denen der Staat "ausgefallen" ist (Somalia, Afghanistan), lehrt: Eine Gesellschaft steuert sich keineswegs von selbst durch Vernunft. Manches regelt eine radikale Anwendung des Marktprinzips von Angebot und Nachfrage. Weithin gilt einfach das "Recht" des Stärkeren, d. h. es regiert die Gewalt, etwa in Gestalt so genannter "Warlords", Kriegsherren, die über so und so viel Bewaffnete verfügen. Die Menschen und ihre Gesellschaft brauchen also den Staat. Eine Diskussion über Demokratie ist nur sinnvoll als eine Diskussion über eine Form staatlicher Herrschaft.
Herrschaft bedeutet immer, dass Freiheit eingeschränkt ist. Aber diese Einschränkung wird erträglicher, wenn die Menschen selbst an der Herrschaft mitwirken und wenn sie selbst bestimmen können, wer die Herrschaft ausübt und wie sie ausgeübt werden soll. Von der Gesellschaft insgesamt her gesehen verwirklicht demokratische Herrschaft in der Tat Selbstbestimmung: Die Gesellschaft eines demokratischen Staates ist grundsätzlich frei. ...
Schon aus Gründen praktischer Entscheidungsfindung muss in der Demokratie ja das Mehrheitsprinzip gelten - die Alternative wäre ein unendliches Palaver bis zum irgendwann einmal erreichten Konsens Aller, womit ein Staat handlungsunfähig würde.


Aus Christoph Spehr (2003): "Gleicher als andere", Karl Dietz Verlag in Berlin
Demokratische Propaganda heißt, Herrschaftspropaganda im demokratischen Zeitalter. Im demokratischen Zeitalter, unserem Zeitalter, das in etwa mit den revolutionären Erschütterungen zu Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt und bis heute andauert, verliert Herrschaft im vordemokratischen Stil ihre Akzeptanz. In früheren Zeiten untermauerten herrschende Gruppen ihren Anspruch, das Kommando zu haben, gerade mit ihrer Andersartigkeit, ihrer Ungleichheit mit den Beherrschten. Die herrschenden Gruppen behaupteten, sie seien von Natur aus zum Herrschen bestellt. Sie seien von Natur aus dazu befähigt, Gott näher, der Vernunft näher, der Zivilisation näher oder wem auch immer zu sein. Sie seien der Kopf, die andern die Organe. Mit solchen Argumenten rechtfertigte sich in vordemokratischen Zeiten die Herrschaft von Königen und Adel über das Volk, von Männern über Frauen, von Weißen über Nicht-Weiße, von Reichen über Arme, von Wirtschaftseliten über die, welche nur ihre Arbeitskraft besaßen. Im demokratischen Zeitalter ändert sich das. Rechtfertigungen dieses Stils werden auf Dauer nicht mehr hingenommen. Damit verschwindet Herrschaft nicht, aber sie verändert sich; und sie stellt sich auch anders dar. Im demokratischen Zeitalter betonen Herrschende und Privilegierte unermüdlich, wie gleich sie den andern seien: kein gottgleicher Über-Bär, sondern Bär unter Bären. Sie prahlen nicht mehr mit ihrer Herrschaft, sondern behaupten, es gebe keine mehr. Und wenn die großen, alten Bären die kleinen zurechtstutzen, dann herrschen sie nicht, sondern setzen nur die Regeln durch, die für alle gelten. Eigentlich handeln sie in Notwehr; sie sind es, die sich gegen die Regelverletzer zur Wehr setzen müssen. ...
(S. 22)
Es ist die Erbsünde der demokratischen Moderne, diese Gewalt nicht prinzipiell bekämpft zu haben, sondern sich vorrangig damit zu beschäftigen, wie sie legitimiert und verregelt sein soll und wer darauf welchen Einfluss erhält.
Herrschaft, die demokratisch legitimiert und ausgeübt ist, ist keine Herrschaft, so lautet das Credo (wobei es unterschiedliche Definitionen gibt, was "demokratisch legitimiert und ausgeübt" heißt). Das ist die mächtige historische Haupttendenz der demokratischen Moderne, mit der sie das Erbe älterer Herrschaftsformen antritt, wenngleich in gewandelter Form. ...
(S. 25)
Rousseau hat jedoch mit beiden Händen ausgeteilt, auf beiden Seiten gespielt. Er hat mit dem Contrat Social später eine Aufforderung verfasst, sich der ersten Haupttendenz der Moderne, ihrer Erbsünde, mit Haut und Haaren zu verschreiben, getrieben von der Idee, eine Herrschaft, die auf die richtige Weise formal verfasst und demokratisch legitimiert sei, sei keine Herrschaft mehr und demzufolge in der Reichweite ihrer Gewalt unbeschränkt und unbeschränkt rechtens. ... (S. 25 f.)
"Gleicher als andere" ist Orwells Formulierung. In Animal Farm stellen die Tiere eines Tages fest, dass das erste Gesetz "Alle Tiere sind gleich" von den Schweinen ergänzt wurde: "Aber einige Tiere sind gleicher als andere."5 Es ist ein Bild dafür, wie Herrschaftsordnungen des demokratischen Zeitalters Freiheit und Gleichheit proklamieren, den Sinn jedoch so verdrehen, dass sie hinterrücks Unfreiheit und Ungleichheit schaffen und legitimieren. So sind im demokratischen Kapitalismus immer schon einige Tiere freier als andere gewesen, und im Realsozialismus einige Tiere gleicher als andere – was mit Freiheit und Gleichheit dann eben wenig zu tun hat. ... (S. 29)

Claudia Bernhard, Kritik der historischen Demokratie, in: Schwertfisch (Hrsg.):, Zeitgeist mit Gräten. Politische Perspektiven zwischen Ökologie und Autonomie, Bremen 1997, S. 222.
Es gilt, sich nicht weiter vom Mythos Demokratie blenden zu lassen, sondern Demokratie als Regelwerk zu begreifen, das die Disziplinierung von Interessenskonflikten in der patriarchal-kapitalistischen Gesellschaft betreibt.

bei Facebook teilen bei Twitter teilen

Kommentare

Bisher wurden noch keine Kommentare abgegeben.


Kommentar abgeben

Deine aktuelle Netzadresse: 3.237.178.126
Name
Kommentar
Smileys :-) ;-) :-o ;-( :-D 8-) :-O :-( (?) (!)
Anti-Spam