Verkehrswende im Wiesecktal

WIR, ALLE UND DIE STIMMEN DES GANZEN
REPRÄSENTATION UND VEREINNAHMUNG

Die Konstruktion kollektiver Identitäten und die Integration der Einzelnen


1. Die Konstruktion kollektiver Identitäten und die Integration der Einzelnen
2. Repräsentation
3. Schlussgedanke
4. Links

Dieser Text ist Teil der Gesamtabhandlung "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen" ... zum Anfang und zur Gliederung

Menschen treten nicht nur als Individuum, sondern auch als Gruppe auf. Nur in wenigen Fällen jedoch sind diese Gruppen das Ergebnis freier Vereinbarung, also die gleichberechtigte Einigung auf eine gemeinsame Organisierung unter Sicherung der Autonomie des Einzelnen. Die meisten Gruppen basieren auf der äußeren Schaffung kollektiver Identität und/oder der Erzwingung der Mitwirkung in einer Gruppe.

Zum Verständnis der Ausführungen in diesen Texten über Kollektiv, kollektive Identität und - dazu im Gegensatz - Kooperation, ist eine Definition nötig, wie sie dann hier gelten soll. Wie bei allen Begriffen, vor allem solch komplexen Inhalten, existieren auch andere Begriffsdefinitionen. Dadurch werden Missverständnisse produziert.

Kollektiv meint hier einen Zusammenhang von Menschen, der mehr ist als die Summe der Einzelnen und auch mehr als die Kooperation der Einzelnen, die ja dank besserer Handlungsmöglichkeiten, gegenseitiger Hilfe und Ergänzung von Fähigkeiten bereits über die reine Summe der Beteiligten hinausgeht.
Kollektivität macht aus der Summe eine Art eigener Person. Das Kollektiv handelt nicht mehr nur in Form der Einzelnen und ihrer freien Kooperaitonen, sondern jetzt selbst. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das bei näherem Hinsehen tatsächlich stimmt oder ob es nicht doch weiterhin Einzelne sind, die handeln. Entscheidend ist, dass es so wirkt, dass das Kollektiv handelt und dieses auch bei den Mitgliedern des Kollektivs so empfunden wird. Das "Wir" entwickelt sich von der reinen Beschreibung ("Wir spielen Fussball") zu einer eigenen Persönlichkeit ("Wir sind der FC X"). Diese kann handeln und im zur Zeit existierenden kapitalistischen Rechtsstaat als Rechtsperson sogar Verträge unterschreiben, die die Einzelnen binden, ebenso Eigentum bilden usw.
Eine weitere Stufe erlangt das Kollektiv - und zwar regelmäßig - mit einer Identität, die dem Kollektiv zugedacht wird. Sie beschreibt Wesensmerkmale des Kollektivs und trennt damit zwischen Innen und Außen. Sie ist - wie das Kollektiv selbst - immer damit verbunden, auch gedacht zu werden von den Mitgliedern des Kollektivs (allen, den meisten oder den prägenden). Die größte kollektive Einheit ist zur Zeit das Volk als originäre Bevölkerung einer Nation oder nach ähnlichen Kriterien, z.B. geographischen Regionen, abgegrenzt. "Die Schweizer" werden als mehr gedacht als das reine Nebeneinander von Millionen von Menschen, mit unterschiedlicher Sprache und noch vielen weiteren Unterschieden. Das Ganze wurde handlungsfähig, trat als Akteur im globalen Maßstab auf und schuf sich eine Identität, die mehr darstellt als die Grenzkontrolle an einer eher zufälligen Grenzlinie. Immerhin ist diese Identität nicht mit einem derart übersteigerten Gefühl der Rassenüberlegenheit verbunden, wie es "die Deutschen" schon einige Male drauf hatten und daraus einen - blutig umgesetzten - Anspruch auf Vernichtung vermeintlich Minderwertiger ableiteten.

Kooperation meint hingegen einen Zusammenhang zwischen Menschen, bei denen keine Eigenpersönlichkeit des Gemeinsamen entsteht, sondern die Menschen die nach außen Handelnden bleiben. Das schließt weder gemeinsames Eigentum noch Kooperationen der Kooperationen aus (im Sinne von Räten oder Ähnlichem, soweit diese nicht mit kollektiver Identität oder Vertretungsmacht als Gemeinwille ausgestattet sind).
In der Kooperation zählt nicht die durchschnittliche, mehrheitlich oder hierarchisch geschaffene Gesamtmeinung, sondern die Vielfalt und Unterschiedlichkeit bleibt erhalten und zur Stärke des aufeinander abgestimmten, frei vereinbarten aber nicht vereinheitlichten Tätigkeitsprozesses.

Ein Problem ist schon die kollektive Identität als solches. Durch Festlegung scheinbar gemeinsamer Eigenschaften der zu einer identitären Gruppe zusammengefassten Menschen entsteht ein Kollektiv. Regelmäßig ist das verbunden mit einem offensiven Bezug auf das „Wir“ im Sinne einer Konstruktion des gemeinsamen Seins und des gemeinsamen Willens. Typisch ist zudem die Abgrenzung gegen das Andere – oft ist diese Abgrenzung der Hauptvorgang der Bildung kollektiver Identität. Daher ist Ausgrenzung in einer Gesellschaft kollektiver Identitäten der Normalzustand und findet auf allen Ebenen der Gesellschaft und in fast allen Gruppen und Zusammenhängen von Menschen (gesellschaftliche Subräume) statt. Kollektive Identität besteht aus der Definierung des Identitäres, also des die Menschen Verbindenden. Hier können diskursive Herrschaftselemente wie die Zurichtung auf Geschlecht, sozialer Gruppe, Nation, Verein usw. ebenso wirken wie die Entwicklung bestimmter Verhaltens-, Kleidungs- oder Sprachcodes als verbindendes Element einer identitären Gruppe. Sympathie und Antipathie beruhen auf diesen Identitäten. Abgrenzung gegen das „Andere“ stärkt die Einbildung gleicher Eigenschaften von Menschen, die als eigenes soziales Umfeld vermutet werden. Das Kollektive entsteht durch die Wahrnehmung und Formulierung des Identitären als Gleiches und Gemeinsames. Am häufigsten geschieht das durch den Einsatz des Wortes „Wir“ – verstärkt wiederum in Verbindung mit der Abgrenzung gegenüber dem Anderen als „Ihr“ oder „Du“. „Wir“ bezeichnet dann eine kollektive Identität, wenn es nicht einen tatsächlichen Ablauf beschreibt („Wir waren gestern in X-Stadt“ oder „wir haben überlegt, die und die Sache jetzt zu machen“), sondern als vereinnahmendes Wort genutzt wird, d.h. durch die Nutzung die Kollektivität hergestellt wird. Ein solches „Wir“ schafft erst den gemeinsamen Willen. Daher ist es ein typischer Teil dominanten Sprachstils, als „Wir“ zu sprechen und damit eine Entscheidungsfindung oder eine Vielfalt selbstbestimmter Meinungen durch eine kollektive Identität zu ersetzen. Allerdings sind auch andere Sprachformen als das „Wir“ möglich, z.B. der Verweis auf Traditionen („Es ist schon immer so gewesen“ u.ä.). Auch hier wird Einheitlichkeit dadurch hergestellt, dass sie beschrieben wird. Ein kollektiv-identitäres „Wir“ unterscheidet sich vom beschreibenden „Wir“ also dadurch, dass der zeitliche Ablauf umgekehrt ist. Das beschreibende „Wir“ versucht, einen Prozess im Nachhinein zu beschreiben. Das kollektiv-identitäre „Wir“ schafft die Einheitlichkeit durch die Benutzung des „Wir“.

In diese kollektiven Identitäten werden Menschen oft ungefragt hineingesteckt, es entstehen also erzwungene Mitgliedschaften. Teil eines Kollektivs zu sein, ohne gefragt zu werden oder sich dazu frei entscheiden zu können, ist Herrschaft. Solcher Zwang entsteht dabei nicht erst durch Nötigung zum Beitritt, sondern bereits durch eine Definition der Zugehörigkeit ohne Einverständnis, oft gar ohne Information der Eingemeindeten. Das geschieht bei der Festlegung von Nationalität, Geschlecht, die Anmeldung an einer Schule, oft auch in einem Verein oder durch die nicht lösbare Bindung in einer Familie. Vor allem für jüngere Menschen ist diese Erfahrung von Zwang alltäglich. Ebenso entsteht Zwang, wenn es keine Alternative zur Mitgliedschaft in einer Gruppe gibt oder ein Verzicht mit erheblichen Nachteilen verbunden wäre. Schließlich führen Vermischungen mit anderen Typen von Herrschaft zu Zwängen, z.B. die Zurichtung durch Erziehung, Medien usw. in einer Weise, die Menschen so konditioniert, dass sie sich zum Teil einer Gruppe machen.

Kollektive Identitäten und erzwungene Mitgliedschaften erfordern die Existenz von Personen, die die Identität (das „Wir“) definieren oder einen Zwang ausüben. Sie sind niemals Ergebnis eines gleichberechtigten Einigungsprozesses, also einer Organisierung von unten. Diese würde immer klären, dass die sich organisierenden Menschen je nach Fragestellung unterschiedliche Auffassungen haben und niemand in der Lage wäre, ohne Klärung der Auffassungen in einem Sprachstil des „Wir“ aufzutreten.

Beispiele für kollektive Identitäten:
  • Volk und Vaterland: Beide entstehen durch die Konstruktion einer kollektiven Identität über die Beschreibung scheinbarer gleicher Eigenschaften, Traditionen, Umwelt, Fähigkeiten usw. sowie die Abgrenzung gegen das Andere, was von außen kommt und das „Wir“ direkt oder zumindest in der völkischen Reinheit bedroht. Ein Volk entsteht nie durch die Einigung der Menschen darauf, ein Volk sein zu wollen, sondern durch Benennung des Kollektivs und der Benutzung des „Wir“ als kollektive Identität. „Wir Deutschen“ ist das nicht Ergebnis einer Selbstorganisierung von Menschen zwischen Flensburg und Konstanz, sondern eine Formulierung, die die Identität erst schafft.
  • Nation: Im Gegensatz zum Volk schafft die Nationalität eine erzwungene Mitgliedschaft durch formalen Akt in der Regel bei der Geburt. Sie ist herrschaftsförmig, weil kraft Geburt ohne Einwilligung durch die betroffene Person. Ähnlich wirkt die Zwangszugehörigkeit zu Familie, Religion, Geschlecht u.ä., die oft auch bereits bei der Geburt entschieden wird und ab dann das Leben prägen.
  • Identitäre Gruppen: Die meisten Cliquen, religiösen oder politischen Gruppen sind identitäre Kollektive, denn ihre Mitglieder unterwerfen sich mehr oder weniger deutlichen Codes an Verhalten, Sprache und manchmal sogar Aussehen (Kleidung, Frisur). Zudem gibt es meist ein „Wir“, das über ein beschreibendes Wort hinausgeht, und klare Unterschiede darin, wer dieses „Wir“ wie einsetzt und damit die Identität der Gruppe prägt. Es ist Standard auch und gerade in politischen Zusammenhängen, dass einige Menschen privilegiert sind, Verhalten, Organisierungsform und politische Position der Gruppe zu definieren – nach außen und nach innen. Ständige Aus- und Abgrenzungen gegenüber dem „Anderen“ sind die wenig überraschende Begleiterscheinung und zeigen nicht nur die herrschaftsförmige Organisierung, sondern sind für diese auch wichtig.
  • Kollektivität in anarchistischen Kreisen

Im Original: Konstruktion und Binnenstruktur des 'Wir'
Aus Altvater, Elmar (2005), "Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen", Westf. Dampfboot in Münster (S. 201)
Die amorphe Verschiedenheit von Ethnien, Nationalitäten, Kulturen, Erfahrungen mag den Eindruck der Menge, der "multitude" erwecken. Doch diese wird zum Subjekt erst durch Entwicklung einer Identität in der Verschiedenheit. Die Voraussetzungen dafür sind vorhanden. Denn die Anliegen sind sehr ähnlich, und dies ist ein starker Grund für die Bedeutung einer Institution wie der des Weltsozialforums und der vielen regionalen Sozialforen, die regelmäßig seit der Jahrhundertwende stattfinden. Das ist Identitätssuche in akzeptierter Verschiedenheit im globalen Raum. Kann eine "Zuspitzung" überhaupt vorgestellt werden, wenn die Subjekte als elne"multitude" gedacht werden, ohne den von Hobbes vorgesehenen Schritt zu vollziehen, die Menge nämlich durch Prozesse der Repräsentation und des Konsenses zu vereinheitlichen? "A multitude of men are made one person when they are by one man, or one person, represented; so that it be done with the consent of every one of that multitude in particular" (Hobbes, Leviathan, chapter XVI: Of Persons, Authors, and Things Personated"). In der Repräsentation darf nicht die Verschiedenheit verschwinden. Doch eine Vereinheitlichung von Zielen und Formen der Auseinandersetzungen ist notwendig, und diese kann im Prozess der kollektiven Forschung erreicht werden, die gerade nicht zu einem programmatischen Abschluss, zu einer formellen Vereinheitlichung führen soll, ganz im Gegenteil.

SubversiveSchlampenSchwestern (2006): Mythos Schwarzer Kanal? Schwarzer Kanal für alle! Wie Politisch ist das Private? In: Interim # 641. Berlin: Interim e.V. (S.6-7)
Wir zählen nicht aus Spaß oder platter Polemik die Gründe der Familienbildung auf und sind uns durchaus bewusst, das es natürlich auch ein Bedürfnis nach einem „Zusammen“ gibt - das den Verhältnissen trotzen kann, oder das als kommunitäres Leben auch emanzipative Möglichkeiten beinhaltet. Aber viele unserer politischen Kollektive der Vergangenheit wurden auch zu sehr engen Käfigen in denen Abweichungen reglementiert wurden. Und wie schnell wurden die freien Ideen der Kollektive zu Zwangskollektiven, in der unter der Maßgabe des Gemeinsamen ein moralischer Gruppendruck aufgebaut wurde, meist ausgeübt von der dominanten Personen innerhalb der Kollektive.

Revolutionäre Subjekte und Klassen
Aus Werner Seppmann*, "Kraft des Widerstands", in: Junge Welt, 7.3.2009 (S. 10 f.)
Weil der Kampf um die unmittelbaren (betrieblichen) Interessen – wenn er mit der notwendigen Intensität geführt wird! – eine wirksame Möglichkeit des kollektiven Lernens ist, besitzen die in den Großbetrieben tätigen Lohnabhängigen trotz aller Aufsplitterungstendenzen immer noch die besten Voraussetzungen, sich als fundamentale Veränderungskraft zu formieren. Deshalb kann weiterhin davon ausgegangen werden, daß die Arbeiterklasse im Sinne von Marx das Negationsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft darstellt, sie die entscheidende Kraft im Kampf gegen das Kapital und für den Sozialismus ist.

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