Verkehrswende im Wiesecktal

WAS IST DER MENSCH?

Kollektive Identitäten als Ersatz-Vergewisserung


1. Warum die Frage?
2. Was prägt den Menschen?
3. Abhängigkeit, Geborgenheit, Losgelöstsein
4. Fluchten: Die Matrix der Geborgenheit
5. Kollektive Identitäten als Ersatz-Vergewisserung
6. Statt Fluchten: Subjekt des eigenen Lebens werden
7. Entfesselte Autonomie?
8. Buchvorstellungen zum Themenbereich

Eineweit verbreitete Fluchtmöglichkeit aus dem Gefühl der Losgelöstheit sind Fremdsubjekte, zugunsten derer ich meinen eigenen Subjektstandpunkt aufgebe. Die Eigenart verschwindet in der kollektiven Identität. Meist leben Menschen inmehreren solcher Fremdidentitäten, also den Gemeinschaften, die ein über die bloße Tätigkeitsbeschreibung hinausgehendes "Wir" entwickeln. Das kann der kleine Verein am Ort sein, meist ist es auch die eigene Familie, die Firma oder Partei, der Fußballverein oder die Nation, in der mensch zufällig geboren ist. Manche konstruieren sich aus der Landschaft rund um ihren (ebenso zufälligen) Geburtsort eine Eigenheit, nennen das dann Heimat oder Bioregion und phantasieren in Steine, Wasser und Bäume eine Qualität, die ihrem Leben dann Identität und Halt verleiht.
Wie überall prägt auch hier die Sehnsucht nach einer neuen Geborgenheit, einer Art Leitkultur, das Geschehen. Der Mensch fühlt sich zu schwach oder außer Stande, sich selbst zu entfalten und zum Subjekt zu werden. Er geht auf in der Identität einer Masse - mitunter in absurden Konstellationen, die BetrachterInnen von fernen Planeten nahelegen würden, die Erde als große Theaterbühne zu begreifen und sich über die dortigen Abläufe kaputtzulachen. Da beschimpfen oder verprügeln sich die SchlachtenbummlerInnen zweiter Fußballvereine, um drei Tage später, als nicht ihre Vereine, sondern die Nationalmannschaft spielt, vereint gegen die Fans der anderen Nation zu schimpfen oder, wenn grad das Verlangen dazu aufkommt, zu verprügeln. Möglicherweise spielen in der nun zum Gegner erklärten Mannschaft mehr Angestellte des drei Tage vorher noch bejubelten Vereins - aber darauf kommt es überhaupt nicht an. Gesucht werden die kollektiven Identitäten, in deren Sphäre mensch sich begibt, um sich dort als Teil des Ganzen und folglich geborgen zu fühlen. Der Eindruck, Leben hätte etwas mit Abwägen und selbst entscheiden zu tun, ist dort dahin. Der tote Fisch im Strom fühlt sich wohl, weil er sich eins weiß in der Richtung mit allem anderen, was dort treibt ...

Hirnstupser im März 2021 Interessen statt Identitäten: Das Leben ist widersprüchlich - Protest auch!
Menschen finden sich nach äußeren Merkmalen zusammen. Das beginnt mit der Familie als Folge formaler und/oder romantischer Beziehungen bzw. dem Hineingeborensein, Nachnamensgleichheit usw. Gleiche Sprache, Alter, Zusammenpferchen in Schulklassen, Musikgeschmack, Kleidung, Fan gleicher Clubs und vieles mehr schaffen neben dem Zufall die Anlässe für Cliquen und andere Gruppen. Identitäten sind ein Problem. Das ist vielen nicht klar, die sich wohl fühlen in ihren identitären Gruppen. Dieses Wohlfühlen durch Zugehörigkeitsempfinden ist der Magnet von Identitäten. Er kleistert die weiterhin vorhandenen Unterschiede wie Hierarchien, gegenläufige Interessen und Privilegien zu. Deutlich wird das den meisten, wenn die großen Identitäten mit ihren mörderischen Folgen benannt werden: Nationen und Religionen. Doch auch wenn die im Kleinen nicht diese fatalen Folgen haben, sie behindern politische Intervention und klaren Blick.
Anschaulicher wird das an Beispielen, auch wenn das gefährlich ist. Denn das Abstrakte bzw. Allgemeine, welchem viele schnell zustimmen, weil die Relevanz für das eigene Leben nicht klar wird, weicht einer schroffen Ablehnung, wenn sichtbar wird, selbst in den Fokus geraten zu können. Das ist bei konkreten Beispielen unvermeidlich – und auch richtig so. Denn es macht keinen Sinn, ständig allgemein zu bleiben, ohne zu merken, dass eine kritische Sicht nicht nur irgendwelche komischen Sphären der Gesellschaft oder „die anderen“ betrifft, sondern mich selbst bzw. meine eigenen Zusammenhänge. Trösten mag aber alle, dass sie mit den folgenden Beispielen nur zufällig getroffen werden, dass auch andere Beispiele hätten gewählt werden können.
Beispiel „vegan“: So eindeutig dieser Begriff auf den ersten Blick klingen mag und dadurch einen ziemlich intensiven Kit zwischen Menschen bringt, die sich als solches begreifen, so unklar ist er tatsächlich. Für eine gemeinsame, zusammenschweißende Identität ist genaues Hingucken aber nicht förderlich. Recht lässt sich die Identität beschreiben. Hier geht es darum, im eigenen Leben nicht mit tierischen Produkten in Kontakt zu kommen. Viele Menschen reden sich ein, dass sie sich durch tierische Produkte unwohl fühlen – selbst auf größere Distanz (z.B. in anderen Räumen). Verstärken lässt sich dieses Gefühl durch die Abgrenzung von „dem anderen“, also Nicht-Veganen. Böse Blicke und Worte sind noch das harmloseste, Verbotsschilder und strikte Regeln steigern das, mitunter drohen Rauswürfe und Prügel. Verkomplizierungen sind bei Identitäten nicht zugelassen. Ob Produkte in ihrem Produktionsprozess Umwelt zerstören, Tiere verdrängen oder töten, Menschen ausbeuten – all das ist bei einem Identitätskonzept egal. Hauptsache ist, das eigene Leben zu designen.
Ganz anders sieht das aus, wenn ein Interesse bestimm wird. Bei veganer Orientierung kommen mindestens zwei Varianten in Betracht. Die eine bezieht sich nur auf den eigenen Körper, der aus Wohlfühlgründen rein vegan ernährt, bekleidet usw. werden soll. Hier steht offensichtlich das Eigeninteresse der Person im Mittelpunkt. Auch hier spielt die Frage, ob Menschen, andere Tiere oder die Umwelt im Produktionsprozess gelitten haben, keine Rolle. Anders sieht das aus, wenn das Interesse besteht, Tierleid zu verhindern. Das wäre die politische Variante des Veganismus. Hier wird es nun spannend, denn Produkte, die keine tierischen Bestandteile enthalten, können massiv Tierleid hervorgerufen haben – vom Ochsen am Pflug, Pferd am Transportwagen über als Fressfeinde getötete oder verdränge Mäuse, Wildschweine, Rehe usw. bis zu Millionen toter Insekten durch entsprechende Spritzmittel oder beim Transport an der Windschutzscheibe. Es wird also komplizierter – und das steigert sich noch. Wenn ich Produkte verwende, ist das Leid schon vorüber. Die Tötung oder Ausbeutung eines Tieres kann nicht rückgängig gemacht werden, in dem ich Konsum oder Nutzung der so hergestellten Sachen verweigere. Möglich und stets die wirksamste Art ist die direkte Aktion samt guter Öffentlichkeit gegen Missstände. Im eigenen Leben kann ein Verzicht höchstens zukünftiges Leid vermeiden. Zumindest durch den Kauf eines Produktes rege ich neue Nachfrage an. Kaufe ich vegane Produkte, vergrößere ich diesen Sektor, der sich in der Folge industrialisieren wird. Das oben benannte Tierleid im Produktionsprozess entsteht neu. Anders sieht das aus, wenn ich Produkte nutze, die weggeworfen wurden. Auch in ihnen steckt das Tierleid der Vergangenheit, welches aber nicht abnimmt, wenn ich das Produkt vergammeln lasse. Ich erzeuge aber keine neue Nachfrage, so dass die sogenannten freeganen Lebensmittel tierleidfrei sind – selbst wenn sie tierischen Ursprungs sind. Dummerweise zeigt sich bei noch genauerem Hingucken, dass doch ein Haken bei der Sache ist, nämlich dass für Außenstehende die Herkunft nicht erkennbar ist und somit z.B. der Konsum containerter Milchprodukte für andere signalisieren kann, dass auch der Kauf okay wäre. Das Analysieren, ein immer genaueres Hingucken, ließe sich fortsetzen. Das Ergebnis ist immer: Je genauer ich hingucke, desto widersprüchlicher wird alles. Identitätskonzepte sind deshalb auch so beliebt. Sich vegan zu fühlen, zu „sein“, ist richtig schön einfach. Der Wohlfühlfaktor stellt sich ein, mensch hält sich für was Besseres, verstärkt die Wirkung durch Abgrenzung des vermeintlich Bösen und bindet sich in eine kuschelige soziale Gruppe ein.
Das sieht bei anderen Themen nicht anders aus. Wer „Antifa“ oder „Antisexismus“ als Label setzt, wird oberflächliche Abgrenzungskämpfe vornehmen und sich vor allem so „fühlen“. Das schweißt zusammen, dringt aber, weil eine Identität, nicht analytisch in das wirkliche Leben ein. Wer das Interesse hat, sexistisches bzw. faschistoides Denken und Handeln zu bekämpfen, wird ganz anders vorgehen und selbst im eigenen Leben und Umfeld vieles von dem entdecken, was Ursache solcher Verhaltensweisen ist.
„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, drückte Theodor W. Adorno das aus – in einer ersten Textfassung stand noch: „Es läßt sich privat nicht mehr richtig leben“. Identitätskonzepte verschleiern Widersprüche. Sie sind eine Selbstbelügung. Auf der richtigen Seite zu stehen, ist dann ein Gefühl – bestätigt durch ein vermeintlich gemeinsames Fühlen in der sozialen Gruppe und die Abgrenzung vom vermeintlich Falschen der anderen. Anspruchsvoller ist, politische Interesse zu bilden und zu schauen, wie stark mensch diese auch verfolgen kann. Angesichts der Widersprüchlichkeiten ist ein „richtiges Leben im falschen“ nicht möglich. Drei Erkenntnis daraus sind wichtig: Es ist möglich, es trotzdem zu versuchen, um Leid zu minimieren. Es ist aus Selbstschutz sinnvoll, dass zwar energisch zu versuchen, aber nicht dogmatisch verkrampft, weil das Ziel nicht erreicht werden kann. Und es wird spätestens nun klar, dass die wirksamste Waffe, um Leid zu vermindern, die direkte Aktion gegen die Ursachen ist – statt dem Versuch, sich auf einer Insel der glücklichmachenden Selbstbelügung einzurichten.



Beispiele

Kulturelle Aneignung als Kampfbegriff für richtiges und falsches Leben
Keine Frage: Ausübung von Herrschaft hat immer auch bedeutet, anderen ihre Ideen, Wissen, kulturellen Umgangsformen und vieles mehr zu klauen. Im Kapitalismus kommt die Verschärfung hinzu, all das in Profit umzusetzen - möglichst ohne die Urheber*innen zu beteiligen. Das zu kritisieren, war und ist sinnvoll, denn es ist Teil einer niveauvollen Analyse und Kritik der herrschenden Verhältnisse.
Der Streit um kulturelle Aneignung aber macht oft und zunehmend etwas ganz Anderes. Er verteufelt die Übernahme von Ideen, Wissen und Umgangsformen aus anderen Kulturen prinzipiell. Das ist zunächst einmal eine ziemlich absurde Denkweise, wenn es zeichnet den Menschen und alle Teile von Gesellschaft aus, dass sie voneinander lernen. Das ist geradezu der Grundtypus des Menschen. Deshalb kann sich Gesellschaft und können sich auch einzelne Menschen weiterentwickeln, weil sie nicht ständig bei Null anfangen müssen, sondern von anderen lernen. Dabei wäre es in einer herrschaftsförmigen Gesellschaft völlig egal, von wem mensch lernt - es werden alle von allen abkupfern. In einer herrschaftsförmigen Welt, wie sie zurzeit existiert, wird das Ganze problematisch, weil durch allerlei Regeln wie Patente, Startkapitalverteilung, nationale Standortkämpfe usw. starke Einseitigkeiten auftreten. Dabei wird auch Wissen übernommen, welches explizit im Widerstand gegen diese Übernahme oder gegen andere Unterdrückungsformen entwickelt wurden. Deren Übernahme soll nun, so die Verfechter*innen der Ablehnung kultureller Aneignung, in jedem Fall schlecht sein, auch wenn sie ohne Absichen von Profit, Unterdrückung usw. geschehen - ja, sogar dann, wenn sie explizit aus Solidarität erfolgen. Das führt zu seltsamen Ergebnissen. Plötzlich entstehen in eigentlich freiheitlich orientierten Zusammenschlüssen scharfe Regeln über Frisuren, Musik, Sportarten, Sprache und vieles mehr. Ende offen.

FridaysForFuture lädt schon gebuchte Band aus, weil Sängerin Dreads trägt
Aus "Absage wegen Dreadlocks", auf: NDR am 23.3.2022
Die Klimaaktivisten hatten ihre die Absage damit begründet, dass sie "gerade bei diesem globalen Streik auf ein antikolonialistisches und antirassistisches Narrativ setzen". Weiter heißt es in dem Schreiben, dass weiße Menschen keine Dreadlocks tragen sollten, "da sie sich einen Teil einer anderen Kultur aneigneten ohne die systematische Unterdrückung dahinter zu erleben". ... bei dem Klimastreik am Freitag könnte Maltzahn noch auftreten - wenn sie sich bis dahin ihre Haare abschneidet.

Aus "Jedem Stamm seine Bräuche", in: Jungle World am 1.9.2016
In den Sozialwissenschaften und der antirassistischen Szene bedienen sich einige im Kampf gegen »kulturelle Aneignung« einer Sprache, die von der rechter Ethnopluralisten nicht mehr zu unterscheiden ist. ...
Ursprünglich war der Antirassismus angetreten, um Diskriminierung zu bekämpfen, Stereotype aufzubrechen und es Individuen zu ermöglichen, gleichberechtigt eine transnationale Menschheitskultur zu gestalten. Parteien und soziale Bewegungen, die gegen die weiße Hegemonie kämpfen, agieren allerdings immer öfter als Anwälte von Stamm, hood, Nation und Umma.


Aus "Kulturelle Aneignung", in: Autonomie-Magazin am 6.10.2021
Im Kolonialismus wurden unzählige Kulturgüter geraubt. Kunstgegenstände aus Edelmetallen wurden häufig eingeschmolzen, Monumente, Ritualgegenstände oder Schmuck landeten in den Museen und privaten Sammlungen der Kolonialmächte. Diese (oft genozidale) Räuberei meinen postmoderne Identitäre nicht, wenn sie von kultureller Aneignung reden. Sie meinen das Übernehmen von Kulturelementen. Bekanntlich ist Kultur aber Aneignung. Schimpansen haben – wie alle Tiere – Instinkte und eine neurologische „Hardware“. Sie lernen allerdings Verhaltensweisen als Kinder und Erwachsene auch von anderen. In Schimpansenpopulationen, die den Gebrauch von bestimmten Werkzeugen kennen, wird das entsprechende Wissen individuell weitergegeben (das heißt auch: individuell angeeignet). Die kulturelle Leistung, welche die Entdeckung des Werkzeuggebrauchs darstellt, können sich andere Gruppen bei friedlichem Kontakt leicht aneignen und sie muss auch nicht von jeder Generation oder gar jedem Individuum neu erbracht werden. Die Entwicklung, die der Mensch als Spezies in den letzten hunderttausenden von Jahren machte, basiert auf Kultur und kultureller Aneignung. Für jeden menschlichen Fortschritt – sei es in der Kunst oder bei der Entwicklung der Produktivkräfte – ist kulturelle Aneignung unerlässlich. Kulturelle Aneignung ist zudem prinzipiell kein Nullsummenspiel. Der Schimpanse, der sich eine Technik des Werkzeuggebrauchs aneignet, nimmt dadurch dem anderen Schimpansen sein Wissen nicht weg. ...
Ein weiteres Beispiel umfassender kultureller Aneignung sind die Kochkunst und regionalen Küchen. Während zwar einzelne Familien, Dörfer, Regionen und Nationen ihre jeweils eigene Art der Nahrungszubereitung haben, findet hier im Kleinen wie im Großen ein permanenter Austausch statt. Zutaten, die für heutige „Nationalgerichte“ unerlässlich sind (z.B. Kartoffeln in Irland und Deutschland, Tomaten in Italien) kamen erst vor kurzer Zeit aus Amerika nach Europa. Die türkische Küche besteht aus zahlreichen Elementen der griechischen, armenischen, arabischen, kurdischen Küchen und vielen weiteren Elementen. Vor diesem Hintergrund diskutieren identitäre amerikanische StudentInnen und andere VollidiotInnen, ob es problematisch ist, wenn „Weiße“ Tacos zubereiten, verkaufen oder essen. ...
2015 machte ein Fall an der Universität von Ottawa Schlagzeilen, der beispielhaft für den völkischen Reinheitswahn angeblich linker Identitärer steht. Jen Scharf, eine Yoga-Lehrerin, hatte sieben Jahre lang an dieser kanadischen Uni kostenlose Yoga-Kurse gegeben. Mit diesen Kursen sollten Inklusion und Wohlergehen von Studierenden mit Behinderungen gefördert werden. Als Jen Scharf im Sptember 2015 den nächsten Kurs beginnen wollte, teilte ihr die Student Federation of the University of Ottawa – bisherige Trägerin des Yoga-Kurses – mit, dass der Kurs nicht mehr stattfinden könne. Die kulturelle Aneignung von Praktiken aus einer unterdrückten, vormals kolonialisierten Gesellschaft und Kultur (hier die indische Hindu-Kultur) ist nämlich den Identitären zufolge problematisch und für Angehörige dieser Kultur verletzend. Es nützte nichts, dass die Kursleiterin argumentierte, sie würde sich nur auf die physischen Aspekte des Yoga stützen und nicht vorgeben, Spiritualität zu vermitteln, sondern Körperwahrnehmung und Streckübungen vermitteln wollen. Innerhalb der Student Federation wurde der Fall zum Politikum und man entschied, dass der Kurs eingestellt werden müsse. Das Angebot, den Kurs in „Mindful stretching“ umzubenennen, wurde nicht akzeptiert. Schon gar keine Rolle spielte es für die privilegierten Studis, dass Stimmen aus der Hindu-Community Ottawas klarstellten, dass man kein Problem mit solchen Yoga-Kursen habe.


Aus "Popkultur-DebatteWas ist kulturelle Aneignung?", auf: Deutschlandfunk am 15.10.2017
Es geht jeweils um das Absprechen von Legitimation, um Delegitimierung: Einem weißen Schauspieler wird die Legitimation abgesprochen, einen Schwarzen darzustellen; Angehörigen der Dominanzkultur wird das Recht abgesprochen, bestimmte Frisuren wie Dreadlocks und Kleidungsstücke wie Kimonos zu tragen; und Teilnehmerinnen und Teilnehmern linker Demonstrationszüge wird die Berechtigung abgesprochen, wirklich für die Belange eintreten zu können, für die sie protestieren, nämlich für soziale Gerechtigkeit.
In allen drei Beispielen wird die Legitimität an kulturelle Zugehörigkeit geknüpft. Oder anders gesagt: Die Zugehörigkeit zu einer Kultur wird als entscheidend dafür angesehen, wer befugt ist, was zu tun. Ob es nun darum geht, gegen den Kapitalismus zu protestieren, verfilzte Haare zu tragen oder bestimmte Rollen zu spielen.
Unterscheiden muss man dabei unbedingt zwischen der berechtigten Empörung über den Ausschluss von People of Color bei einer subkulturellen, linken Veranstaltung einerseits und andererseits dem Versuch, als Antwort darauf kulturelle Eigenheiten zu betonen. Als wäre den Abwesenden damit direkt gedient, wird versucht, die Verbindung von kulturellen Zeichen wie etwa Dreadlocks, ihrer Bedeutung und den TrägerInnen dieser Zeichen festzuzurren: Widerstand, den können nur indische Kleinbauern (oder vergleichbare Subalterne) auf angemessene Art und Weise leisten, Dreadlocks stehen legitim nur Schwarzen zu. Das ist eine Re-Essenzialisierung, also die Wiedereinführung der Behauptung einer Wesensverbindung.
Mit der Durchsetzung poststrukturalistischer Theorieansätze galten solche Wesensbestimmungen eigentlich als passé – deshalb die Vorsilbe Re-. Denn sie ist analytisch wie auch politisch extrem problematisch. Politisch ist sie vor allem deshalb so gefährlich – so viel sei vorweggenommen –, weil sie in letzter Konsequenz Solidarität unmöglich macht.
Analytisch besteht das Problem darin, ungeheure Verallgemeinerungen vorzunehmen. ...
Darüber hinaus basieren die Vorwürfe der kulturellen Aneignung oft ganz grundsätzlich auf einem sehr statischen Verständnis von Kultur. Das gilt auch für Yaghoobifarahs und Dhawans Ansätze. Zu Ende gedacht läuft ihre Kritik nämlich auf ein starres – und damit extrem konservatives – Verständnis von Kultur hinaus.
Kultur meint dann: kollektiv geteilte Merkmale – wobei angeblich feststeht, wer zum Kollektiv gehört und um welche Merkmale es geht.


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