Schwarzstrafen

ZUR GEWALTFRAGE

Um was es geht


1. Um was es geht
2. Was ist eigentlich Gewalt?
3. Verwirrung hoch zehn: 20. Juli 1944
4. Gewalt als zentraler Punkt - pro und contra
5. Perspektiven
6. Vermeintliche Ursachen von Gewalt
7. Links

Verfasst für das Buch "Anarchie. Träume, Kampf und Krampf im deutschen Anarchismus" (Gliederung).
Überarbeitet für das Buch "Gewalt" (ein Band in der Pocket-Theoriereihe). Weitere Aktualisierungen und Ergänzungen folgen.

Die Auseinandersetzung um den Tiefbahnhofbau und Kopfbahnhofabriss in Stuttgart trug bizarre Formen. Heiner Geißler, der Superschlichter und Bahnbauretter von Stuttgart, CDU-Mitglied und erkennbarer Freund geordneter Staatsverhältnisse, machte einige Jahre zuvor einen Satz berühmt, der ihn - obwohl damals als Unterstützer von Attac unterwegs - wie einen Militanten aussehen ließ: "Wenn mich einer anfasst, dann schlage ich zurück - und wenn es ein Polizist ist, dann schlage ich zurück. Wenn ich demonstriere, dann übe ich ein Grundrecht aus, dann lasse ich mich nicht anfassen, von niemandem. " Er sagte das kurz nach seinem Attac-Beitritt im Juni 2007 mit Bezug auf den damals bevorstehenden G8-Gipfel. Genau dieser Geißler rettete dann das Megaprojekt Stuttgart 21 vor den Protesten.

Demgegenüber der sogenannte "Aktionskonsens" seiner Gegner_innen, verfasst von den als radikaler oder zumindest aktionistischer Flügel der Proteste wahrgenommenen "Parkschützern" (warum eigentlich in rein männlicher Schreibweise?), geradezu wie eine gehisste weiße Fahne: "Stuttgart 21 steht dem Willen und dem Interesse der Bevölkerung entgegen. Deshalb sehen wir uns in der Pflicht, alle gewaltfreien Mittel zu nutzen, um dieses Projekt zu stoppen. Gesetze und Vorschriften, die nur den reibungslosen Projektablauf schützen, werden wir nicht beachten. Durch Einschüchterungsversuche, mögliche Demonstrationsverbote und juristische Verfolgungen lassen wir uns nicht abschrecken. Bei unseren Aktionen des Zivilen Ungehorsams sind wir gewaltfrei und achten auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel. Unabhängig von Meinung und Funktion respektieren wir unser Gegenüber. Insbesondere ist die Polizei nicht unser Gegner. Bei polizeilichen Maßnahmen werden wir besonnen und ohne Gewalt handelt. Bei Einstellung des Bauvorhabens Stuttgart 21 werden wir unsere Blockade- und Behinderungsaktionen sofort beenden." Ein bemerkenswerter Text einer Strömung, die Geißlers Integrations- und Befriedungsschau unter Protest verließen, um dort nicht mit weichgespült zu werden. Ein - wie inzwischen auch die wissen, die dabei blieben - weiser Schritt. Doch der Blick auf den Aktionskonsens lässt eher den Verdacht aufkommen, dass selbst die, die Geißlers Integrationsshow nicht mitmachen wollten, ihren Protest auch nur mit angezogener Handbremse fahren wollten.
  • Obwohl nur recht kurz, kommt dreimal die Redewendung "gewaltfrei" bzw. "ohne Gewalt" vor. Das stellt also die zentrale Botschaft aller Aktion und Strategie dar.
  • Alle "Gegenüber" (ob Polizei, Regierung ...) werden respektiert - und zwar "unabhängig von Meinung und Funktion". Das ist eine bemerkenswerte Aufgabe des Anspruchs, in Verhältnisse und Verhaltensweisen zu intervenieren. Wörtlich genommen heißt die Passage, dass Sexismus, Rassismus usw. zumindest geduldet würden.
  • Gleichzeitig wird nach Innen ein deutlicher Machtanspruch vertreten. Der Rechtshilfefonds, für den die Parkschützer werben, ist kein solidarischer Topf. Geld erhält nur, wer sich dem bedingungslosen Gewaltfreiheitsdogma des Konsens unterwirft: "Der Aktionskonsens ist die Bewilligungsgrundlage für Unterstützung aus dem Rechtshilfefonds" heißt es auf www.kritisches-stuttgart.de.


Der dogmatische Gewaltfreiheitsansatz macht dabei auch vor Unlogiken nicht halt: "Bei unseren Aktionen des Zivilen Ungehorsams sind wir gewaltfrei und achten auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel." Mit dieser Formulierung vereint der Konsens in einem Satz zwei unvereinbare Prinzipien: Zum einen die dogmatische Festlegung von Aktionsstrategien ("gewaltfrei") und zum anderen der Ruf nach "Verhältnismäßigkeit der Mittel". Beides zusammen geht schon theoretisch nicht. In der Praxis können zwar im konkreten Fall beide Ansprüche gewahrt sein, aber in anderen eben nicht. "Verhältnismäßigkeit der Mittel" bedeutet, dass mensch sich je nach Situation entscheidet, was passt und was nicht. Dabei kommen eine Menge Kriterien zum Zuge:
  • Willen, Lust, Bedürfnisse, Ängste und Fähigkeiten der handelnden Person(en)
  • Situation/Rahmenbedingungen vor Ort und verfügbare Mittel
  • Gefahren von Nebenwirkungen oder Kollateralschäden der genutzten Aktionsform(en)
  • Vermittlungsmöglichkeiten von Kritik, Inhalten oder Perspektiven, die hinter einer Aktion stehen
  • Brisanz, Zeitdruck, Erfordernis eines schnellen und wirksamen Einschreitens
  • Abwägung zwischen Schaden und Nutzen der verschiedenen möglichen Aktionsformen
  • ... und sicherlich noch einiges mehr.

Es gibt fraglos viele Fälle, in denen gewaltfreie Mittel zum jeweiligen Aktionsziel, der Lage vor Ort, den Vermittlungsstrategien und den Bedürfnissen der Beteiligten entsprechen. Dann wäre es sinnlos, gewaltförmig vorzugehen. Viele militante Aktionen resultieren bedauerlicherweise eher aus Ohnmacht oder einem inhaltsleeren, dann eher mackerhaften Pro-Gewalt-Fetisch als reflektierter Überlegung. Aber das kann auch anders ein. Nehmen wir zwei Beispiele von Aktionen, in denen recht eindeutig Gewalt gegen Menschen ausgeübt wurde.
  • Es ist schon lange her, als Beate Klarsfeld dem deutschen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger eine öffentliche Ohrfeige verpasste. Sie war damals schon in antifaschistischen Kreisen aktiv und versuchte - wie andere auch -, den Machterhalt von Altnazis in allen möglichen Führungspositionen der BRD zu thematisieren. Der Erfolg blieb weitgehend versagt, bis diese gezielte, direkte Aktion einen erheblichen öffentlichen Erregungskorridor schuf, der einen spürbaren Anteil an der später folgenden kritischen Teil-Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit vieler BRD-Kader bewirkte.
    Frage: Was an dieser Aktion ist - angesichts des fehlenden Erfolgs vorheriger Bemühungen - unverhältnismäßig? Nach der Doktrin der Gewaltfreiheit hätte sie aber trotzdem nicht stattfinden dürfen (mit allen Folgen für die damalige Zeit). Hier stehen "Verhältnismäßigkeit der Mittel" und Gewaltfreiheit in einem offensichtlichen Gegensatz.
  • Seit 2004 wurden in Deutschland zum zweiten Mal (nach den 90er Jahren) vermehrt gentechnisch veränderte Pflanzen ausgebracht. Viele fürchteten Folgen für Gesundheit und Umwelt, andere thematisierten die Zuspitzung von Herrschaftsverhältnissen durch Saatgutkontrolle, Patente und die Industrialisierung der Landwirtschaft. Insgesamt lehnten aus solchen Gründen zusammengenommen 80 Prozent der Bevölkerung die Gentechnik auf Acker und Teller ab, während nur sechs Prozent sie wünschten. Selbst Befürworter_innen der Gentechnik bis hin zu den führenden Konzernen a la Monsanto hielten die Technik für unkontrollierbar und wenig nützlich - verfolgten sie aus kommerziellen Gründen aber dennoch weiter.
    Seit 2005 mehrten sich direkte Aktionen gegen die Felder, z.B. durch Gegensaaten, Besetzungen und sogenannte Feldbefreiungen, bei denen die gentechnisch veränderten Pflanzen herausgerissen wurden. Um die Felder besser zu schützen, wurden diese immer mehr auf gemeinsame Areale zusammengelegt und stärker bewacht. 2011 existierten nur noch zwei intensiv Standorte mit jeweils mehreren Versuchsfelder auf einer umzäunten und bewachten Fläche. Im Juli 2011 gelang es unbekannt gebliebenen Aktivist_innen, innerhalb von 48 Stunden beide Anlagen zu überfallen und dabei alle Sicherungen auszuschalten. So blieben sie unerkannt, konnten alle Felder zerstören und die Alarmauslösung z.B. der in einem Fall bereitstehenden Polizeihubschrauber verhindern. Dafür aber mussten sie die vor Ort tätigen Bewacher in ihren Wachhäuschen einsperren und sie ihrer Kommunikationsmittel berauben. Das Ergebnis war durchschlagend: Nach der Doppelaktion beschlossen die führenden Gentechnikkonzerne, Deutschland als Feldstandort fortan zu meiden. Der Gentechniklobbist Uwe Schrader sprach vom "Genickbruch".
    Frage: Was an dieser Aktion ist unverhältnismäßig? Es gilt das Gleiche wie oben: Wenn die Aktion als verhältnismäßig angesehen wird, steht dieses im Widerspruch zum Dogma der Gewaltfreiheit. Hätte Letzteres gegolten, gäbe es voraussichtlich auch 2012 und die Folgejahre noch gentechnisch veränderte Pflanzen in Deutschland.

Es zeigt sich schnell, dass sich ein dogmatischer Ausschluss von Gewalt mit einem Anspruch an Verhältnismäßigkeit nicht vereinbaren lässt. In Kreisen dogmatischer Gewaltfreiheit führt das zu keinen Problemen. Der Spruch der Verhältnismäßigkeit hat dort nur propagandistische Bedeutung. Es gilt das Primat der Gewaltfreiheit - durchgesetzt oft mit autoritären Mitteln wie Selbstverpflichtungserklärungen, Ausgrenzungen und einer steuernden Strategie von Konsens und Vetoeinsatz. Wie sähe demgegenüber emanzipatorische Sichtweise zur Gewaltfrage aus? Diese bedeutet, dass die Menschen aus ihrer jeweiligen Position und Überzeugung heraus in freier Kommunikation und Reflexion ihre Wahl der Mittel treffen. Vorgaben, die eine bestimmte Verhaltensweise nahelegen oder oktroyieren wollen, haben keinen höheren Rang als die Vielfalt der Meinungen unter den Beteiligten. Gesetze, religiöse oder sonstige Moralkonzepte stellen solche Vorgaben dar, die über der eigenen Entscheidung bzw. der freien Vereinbarung mehrerer Menschen stehen. In ihnen geht der Anspruch auf Verhältnismäßigkeit verloren, weil die Handlungsvorgaben unabhängig von den konkreten Personen, ihren Interessen oder Bedürfnissen sowie der konkreten Situation erfolgen. Eine Handlungsvorgabe aber, die unabhängig von Menschen und Situation gelten soll, ist ein autoritäres Dogma. Es entmündigt die Menschen, weil diese nach dem Dogma handeln sollen und nicht nach eigenen Wünschen, den Wünschen Anderer und der jeweiligen Situation.

Unbedingte Gewaltfreiheit ist ein solches Dogma. Es soll immer gelten. Beate Klarsfeld, die unbekannten Feldbefreier_innen oder Georg Elser - sie alle handelten zwar ersichtlich verhältnismäßig, aber doch moralisch falsch. Weil gewaltsam. So jedenfalls wertet das Dogma der Gewaltfreiheit.

Geißlers Satz, er würde zurückschlagen, sagt viel und wenig. Wenig deshalb, weil sein Motiv im Dunkeln blieb. Viel aber auch, weil hier etwas in Frage gestellt wurde, was meist wie ein Heiligtum behandelt wird: Das Gewaltmonopol des Staates in Einheit mit dem freiwilligen oder erzwungenen Gewaltverzicht der Untertanen. Daher hätte der Satz durchaus ein kleines Beben bei denen auslösen können, für die Geißler auftrat und warb: Attac - neben Bionade die damals fast offizielle Marke für eine bessere, aber geordnete und eigentlich auch gar nicht so viel andere Welt. Zwar war die Organisation wegen seiner offenen Strukturen ein Sammelbecken für viele Richtungen, aber die von den zentralen Personen und Gremien verkörperte und verkündete Hauptlinie richtete sich doch ziemlich eindeutig auf eine nur mäßig reformierte Welt aus.

Dass das mentale Beben ausblieb, war ungewöhnlich. Meistens nämlich hat die Gewaltfrage eine paralysierende Wirkung auf politische Zusammenhänge. Kein anderes Thema führt so schnell zu erbitterten Streitdebatten, zu Ab- und Ausgrenzungen oder sogar zu Phantasien, sich mit der anderen Seite (z.B. der Polizei) zu verbünden, um die eigene Position durchzusetzen. Warum erregt Gewalt die Gemüter, während Debatten um Inhalte und Aktionsformen nur selten intensiv diskutiert werden oder schlicht gar nicht interessieren?
Anhänger_innen der Gewaltfreiheit führen verschiedene Argumente für ihre Position ins Feld. Danach soll eine gewaltfreie Welt nicht mit Gewalt erreichbar sein, d.h. "der Zweck heilige nicht die Mittel". Es sei deshalb auch so wichtig, diese Frage tatsächlich in den Mittelpunkt zu stellen, weil es kein Mit- oder Nebeneinander von Gewaltfreiheit und Militanz geben könne. Letzteres würde ersteres immer kaputt machen. Andere halten Gewaltfreiheit schlicht für die wirksamste Strategie. Solche Gründe kann mensch teilen oder nicht. Auffällig und einmalig und den vielen Streitthemen der Politszene aber ist die Vehemenz, mit der die Gewaltfrage Emotionen weckt und spaltet, ohne jemals näher begründet zu werden. Meist steht sie wie ein Lehrsatz im Raum.

Im Original: Wolfgang Sternstein zur Stuttgart 21
Aus einem offenen Brief von Wolfgang Sternstein ("Friedens- und Konfliktforscher mit dem Schwerpunkt Theorie und Praxis der gewaltfreien Aktion", so im Brief selbst benannt) an den Stuttgart21-Widerstand
... weil die Bereitschaft, die staatlichen Sanktionen (zumindest in letzter Instanz) klaglos hinzunehmen für mich zum ZU dazugehört ...
Ich orientiere mich hier an der Beschreibung des ZU im Internet-Lexikon Wikipedia: "... Demjenigen, der zivilen Ungehorsam übt, geht es damit um die Durchsetzung von Bürger- und Menschenrechten innerhalb der bestehenden Ordnung, nicht um Widerstand, der auf die Ablösung einer bestehenden Herrschaftsstruktur gerichtet ist." ... Diese Beschreibung kann ich mir in vollem Umfang zu Eigen machen abgesehen davon, dass ZU selbstverständlich auch ein geeignetes Mittel darstellt, einen Unrechtsstaat zu überwinden. ...
ZU ist mit hohen Risiken verbunden und sollte daher nur als letztes und äußerstes Mittel des gewaltfreien Widerstands eingesetzt werden. ...
Er sollte gewaltfrei sein im Sinne des Verzichts auf Menschen verletzende oder gar tötende Handlungen. Dazu gehört auch der Verzicht auf psychische Verletzungen in Form von Beschimpfungen, Beleidigungen oder Verunglimpfungen von Gegnern oder Polizisten. Zivile Ungehorsame sollten stets höflich auftreten und gesprächsbereit sein, und zwar gleichermaßen gegenüber Gegner_innen, Polizisten, Richter_innen und Unbeteiligten.
Wird ZU von Einzelnen und kleinen Gruppen geleistet, so appelliert er an das Gewissen der Urheber des staatlichen Unrechts, ihr Handeln zu überdenken. ...
Zum ZU gehört auch die Bereitschaft, das (letztinstanzliche) Urteil klaglos hinzunehmen. ... Es scheint mir aber falsch, im Fall von Verurteilungen aufgrund einer Gesetzesübertretung von „Kriminalisierung“ zu sprechen. Wer dazu nicht bereit ist, sollte meiner Meinung nach die Finger vom ZU lassen. ...
Zum Ethos des ZU gehört schließlich, dass die Ungehorsamen gerechte Gesetze, die dem Gemeinwohl dienen, freiwillig und ohne den Zwang der Strafandrohung beachten. Der ZU richtet sich folglich nicht gegen den Gesetzesgehorsam an sich, sondern ausschließlich gegen Gesetze oder staatliche Maßnahmen, die nach Ansicht der Ungehorsamen ungerecht sind. ...
Wenn beispielsweise Polizisten mit Sprechchören empfangen werden: „Haut ab, haut ab!“ oder „Große Klappe, nichts dahinter“, oder wenn Polizeidurchsagen mit Lärm übertönt werden, oder wenn Polizistinnen und Polizisten mit hasserfüllten Bemerkungen bedacht werden, so ist das ein eindeutiger Verstoß gegen das Prinzip des ZU. ...
Unser Ziel kann es jedoch nicht sein, unbedingt freigesprochen zu werden. Unser Ziel ist es vielmehr, die Rücknahme des staatlichen Unrechts zu erreichen, und dem dient eine Verurteilung manchmal mehr als ein Freispruch. Wir sollten nie vergessen: gewaltfreie Aktion und ZU entfalten ihre Wirkung in erster Linie dadurch, dass Menschen bereit sind, für ihre Überzeugung Nachteile und Strafen hinzunehmen. ...
Meine Bitte ist jedoch, bei Aktionen, die der Definition des ZU widersprechen, nicht von ZU zu sprechen, sondern andere Worte zu benützen, z.B. Widerstand oder Ungehorsam.


Was unter die Räder der Gewalt(freiheits)debatte kommt ...
Der Streit um die Frage von Gewaltanwendung prägt viele Diskussionen und zerstört oft Willen und Chancen zur Gemeinsamkeit. Diese Frage, ob ein Ausschluss jeglicher Gewalt oder die Orientierung an Verhältnismäßigkeit überhaupt ein so wichtiger Knackpunkt ist, dass er zum Scheidepunkt werden muss, wird selten gestellt. Meist geraten Gewaltfreiheit oder Militanz - je nach Blickwinkel - zum Inbegriff von richtig und falsch und steigen so zur identitätsstiftenden Kraft von Strömungen auf. Beide Auffassungen, pro oder contra Gewalt, werden dann oft zum Ausschlusskriterium. Wenn es gut läuft, gehen sich die Lager aus dem Weg. Sonst kann es zu erbitterten Auseinandersetzungen kommen - zumindest als mediale Zerfleischung vor, während und nach Aktionen.
Derartige Abgrenzungen und Glaubenskampf-ähnliche Debatten wären nur begründet, wenn Militanz oder Gewaltfreiheit ein dominanter Grundsatz aller politischen Arbeit wäre - also sich qualitativ von anderen Fragen, die nicht zu Abgrenzungen führen, unterscheiden. Fände sich kein Grund für diese Sonderstellung, wäre es nicht nur willkürlich, die Gewaltfrage immer wieder zum Knackpunkt zu erheben, sondern auch gefährlich. Denn die erzwungene Dominanz dieser Debatte lenkt von anderem ab, das mindestens ebenso nötig zu diskutieren wäre, aber oft hinten runterfällt. Sowohl bei vielen Gewaltfreien, Militanten und auch Anderen fehlen Fragen nach der Qualität von Aktionsformen und -vermittlung.
  • Wie sehen die Dominanzverhalten und Hierarchien in Gruppen aus, u.a. die Hauptamtlichen-, "Checker_innen"-, Männer- oder Erwachsenendominanz innerhalb von Aktionsstrategien oder Bündnissen?
  • Fördern politische Positionen die Zwangsverhältnisse durch Staat oder Markt?
  • Werden Kritiken oder Forderungen so stark populistisch verkürzt, dass sie falsche Auslegungen hervorrufen, für rechte Gruppen anknüpfungsfähig sind o.ä.?
  • Wieweit reproduzieren Aktionen mit ihrem Hang zu prominenten Redner_innen, Aufrufen im Namen labeltragender Gruppen usw. die Normen und Zurichtungen in der Gesellschaft?
  • Welche Außenvermittlung hat eine Aktion? Wen erreicht sie wie und mit welchen Positionen?
  • Sind die Eingriffe in den Alltag von Menschen, die jede Aktion (auch die gewaltfreie!) mit sich bringt, angemessen und sichtbar begründet?
  • Wie können Vielfalt und Qualität von Aktionen verbessert werden, sowohl von der Aktionsmethode her wie auch bei der Vermittlung?

Über solche Fragen wird selten gestritten, zumindest nicht mit der Inbrunst, wie um die Gewalt. Das gilt für gewaltfreie wie für militante Gruppen gleichermaßen. Das Ergebnis ist verheerend - die meisten militanten wie auch die meisten gewaltfreien Aktionen sind platt, inhaltsleer und methodisch langweilig. Militante Aktionen misslingen seltener wegen ihrer Gewalt, sondern weil die meiste Gewalt primitiv ist und eine Vermittlung fehlt. Das aber gilt auch für Mahnwachen, Latschdemos und Postkartenaktionen. Offensichtlich verdrängt die Fetischisierung von Militanz bzw. Gewaltfreiheit eine Debatte um die Qualität von Aktionen.
Notwendig wäre stattdessen eine deutliche Weiterentwicklung von Zielen, Visionen, Gesellschaftskritiken und Methoden von Aktionen einschließlich ihrer Außenvermittlung. Wenn dann im Zuge politischer Kämpfe kreative, vermittlungsstarke militante und gewaltfreie Aktionen nebeneinander geschehen - wer wollte sich darüber ärgern?

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