Schwarzstrafen

DIREKTE DEMOKRATIE - VON BÜRGERINNENENTSCHEIDEN BIS ZUM FÜHRERSTAAT

Volk und Führer - gehört es zusammen?


1. Zitate und Definitionen zur direkten Demokratie
2. Wir sind das Volk! - Nein wir ... wer hat den wahren Volkswillen?
3. Volk und Führer - gehört es zusammen?
4. Kritische Blicke
5. Tipps und Tricks für Bürgerentscheide

Aus Gabor Steingart, "Land voller Abschiede", in: Spiegel, 9.3.2009
Erhebt im amerikanischen Fernsehen Barack Obama das Wort, wird geschwiegen wie im Gottesdienst. ... Die Worte des Präsidenten werden als Bereicherung, nicht als Belästigung empfunden. Das Volk hört sich in ihm. Es spricht gewissermaßen zu sich selbst. ... Die direkte Demokratie hat einmal mehr Wundersames hervorgebracht. Die Amerikaner wählten keinen von der Partei auf den Schild gehobenen Spitzenkandidaten, sondern hoben selbst einen auf den Schild. Politik mit Volk, Demokratie getragen von Leidenschaft, wen das in diesen Tagen nicht fasziniert, der ist Zyniker oder Vorstandsmitglied einer deutschen Partei. ... Die richtigen Worte können Zauberkraft entfalten, zumal in Krisenzeiten. Sie vermögen ein Volk zu beruhigen und die Verzagten mit Hoffnung zu erfüllen. ... Erkennbar sprach sie nicht mit dem Volk, sondern übers Volk. ... Für Amerika gilt unverändert, was Alexis de Tocqueville vor rund 170 Jahren geschrieben hat: "Das Volk beherrscht die amerikanische Politik wie Gott das Universum." Deshalb schmiegt sich Obama so an die Menschen. Sie sind seine Götter. ... Deutschland ist weltweit die einzige Demokratie, in der von den drei Gewalten - der gesetzgeberischen Gewalt des Parlaments, der ausführenden Gewalt der Regierung und der kontrollierenden Gewalt der Gerichte - keine einzige durch das Volk allein bestimmt werden darf. ... Denn nur die eine Hälfte des Plenums gehört Abgeordneten mit Direktmandat. Das wird vom Wähler verliehen. Aber schon einen Sitz weiter stößt man auf die anderen, die Listenvertreter. Viele von ihnen sind gerade erst beim Volk mit Pauken und Trompeten durchgefallen.

Kritik an plebiszitärer Führerdemokratie - aber Parteiapparate gelobt
Aus Thomas Wagner, "Alte Rezepte", in: Junge Welt, 27.1.2009 (S. 10 f.)
Hans Herbert von Arnim fordert mehr direkte Demokratie. Dahinter steht keine emanzipatorische Perspektive, sondern das Konzept einer "Führerdemokratie" zum Schutz kapitalistischer Herrschaft ...
Die demokratische Legitimationsgrundlage dafür will er durch die plebiszitäre Selbstentmachtung des Wahlvolkes schaffen. ...
Demokratische Willensbildungsprozesse, sprich: zeitaufwendige innerparteiliche Diskussionen und Abstimmungen über politische Richtungsentscheidungen, können umgangen werden, wenn Parteiführer den Kontakt zur Basis unmittelbar über die Medien herstellen und dafür der Organisationsleistung ihrer Parteien immer weniger bedürfen. Arnim begrüßt uneingeschränkt, daß die führenden Politiker im Medienzeitalter die angeblich "innovationsfeindlichen Auswirkungen der Parteien" (Arnim 2004, S. 208f.), ihre "Bremserrolle" (ebd.) hinsichtlich wirtschaftsfreundlicher Reformen besser zu neutralisieren vermögen als je zuvor. Denn die modernen Medienkanzler haben gelernt, ihre Bildschirmpräsenz zu nutzen, um sich effektiv gegen ihre eigene Parteibasis durchzusetzen. "Das macht ein Vergleich der beiden sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Gerhard Schröder deutlich: Während Schmidt vor zwei Jahrzehnten an seiner Partei scheiterte, die ihm die Gefolgschaft aufkündigte, als es um den Abbau sozialstaatlicher Übertreibungen und die Durchsetzung des Nachrüstungsbeschlusses ging, fährt Schröder einen gezielten Kurs der ›Neuen Mitte‹ und läßt aufgrund seiner ständigen Fernsehpräsenz der SPD (…) kaum eine Chance, sich dagegen aufzulehnen." (Arnim 2004, S. 209) ...
Die von der NPD angestrebte Ordnung, erläuterte ihr Parteivorsitzender Udo Voigt im Interview mit der Jungen Freiheit (40/2004, 24.9 2004), werde "eine Volksgemeinschaft sein, und ein wichtiger Eckpfeiler ist die direkte Beteiligung durch Volksabstimmungen, wie das zum Beispiel der Politologe Hans-Herbert von Arnim vorschlägt".


Aus der Prinzipienerklärung der FAU
Die parlamentarische Demokratie ist nur eine scheinbare Demokratie. ... Im Gegensatz dazu steht die 'Direkte Demokratie', In der jederzeit abwählbare, dem Volk gegenueber rechenschaftspflichtige Delegierte, die aus dem Volk kommen, die jeweils anstehenden Entscheidungen treffen.

Direkte Entscheidung durch das Volk sind nicht der Gegensatz zur Entscheidung durch StellvertreterInnen, weil das Volk nur in Form seiner Stellvertretung existiert. Verändert werden können nur die Mechanismen und in der Folge auch die konkreten Personen, die die Stellvertretung ausführen. "Delegierte, die aus dem Volk kommen" setzt einen Qualitätsmaßstab, der das Konstrukt Volk und eine Benennung der Zugehörigkeit voraussetzt. Das ist zwar selbst noch keine Volk-und-Führer-Logik, aber eine Vorstufe, weil sie Volk voraussetzt und zur Qualität erhebt. Der Weg von "aus dem Volk" zu "für das Volk" ist geegnet, Anarch@s würden so zu SteigbügelhalterInnen des Nationalsozialismus.

Im Original: Direkte und Führer-Demokratie
Aus Wagner, Thomas (2011): "Demokratie als Mogelpackung", PapyRossa in Köln (S. 32ff)
Polemik gegen den Parteienstaat: Hans Herbert von Arnim
Da er im Deutschen Bundestag derzeit noch keine Chance sieht, "das einfache Mehrheitswahlrecht einzuführen", schlägt Hans Herbert von Arnim alternativ eine Strategie der kleinen Schritte vor. So soll die Machtposition der Ministerpräsidenten der Länder gegenüber den Parlamentariern künftig durch ihre Direktwahl gestärkt werden. Auf diese Weise erhielten sie "die für kraftvolles Regieren nötige demokratische Legitimation. Sie wären nun dazu ermächtigt, eine Reform der Verwaltung "notfalls auch gegen den Widerstand der öffentlichen Bediensteten (innerhalb und außerhalb des Parlaments) und ihrer Gewerkschaften durchzuführen". Der populäre Parteienkritiker bemüht immer eine ausgesprochen demokratisch klingende Rhetorik, um seine im Ergebnis reaktionäre Systemanklage zu begründen. Die hauptberuflichen Funktionäre in Parteien, Parlament und Regierung denunziert er pauschal als eigennützige politische Klasse, die für nahezu alle Fehlentwicklungen verantwortlich ist, die von der Bevölkerung nach 1945 haben ertragen werden müssen. "Seit Jahrzehnten beklagt der Speyerer Staatsrechtler in Talkshows die Allmacht der Parteien, die Selbstbedienungsmentalität der Eliten und die Verlotterung der Demokratie", charakterisiert der Stern (6.5.2008) die zahlreichen Fernsehauftritte und publizistischen Aktivitäten eines Autors, der sich in der Rolle des unbestechlichen Systemkritikers aus der Mitte der Gesellschaft gefällt. Die Titel seiner Bücher sind Programm. "Fetter Bauch regiert nicht gern" (1997), "Vorn schönen Schein der Demokratie. Politik ohne Verantwortung am Volk vorbei" (2000), "Das System" (2001), "Das Europa Komplott. Wie EU-Funktionäre unsere Demokratie verscherbeln" (2006). Der ehemalige Leiter des Karl Bräuer Instituts des mittelstandsnahen Bundes der Steuerzahler polemisiert gegen Korruption und Machtmissbrauch von oben. Freilich ohne dabei die grundlegenden Herrschaftsverhältnisse in Frage zu stellen. Denn diese will er in Wirklichkeit zementieren. Das ständig neue Ungleichheit produzierende System kapitalistischer Herrschaft steht nicht im Geringsten zur Disposition. Von einer Demokratisierung der Wirtschaft ist keine Rede. Stattdessen unterbreitet er Vorschläge, wie die Interessen der ökonomisch Mächtigen mit größerer Legitimation, reibungsloser und dadurch effektiver als bisher gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durchgesetzt werden können. Was auf den ersten Blick wie eine Auffrischung radikaldemokratischer Ideen erscheint, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als gut durchdachte Strategie, die organisierte Interessenvertretung der lohnabhängigen Schichten zu schwächen und einem plebiszitär legitimierten Präsidialregime den Weg zu bereiten, das die demokratischen Mitbestimmungschancen der Bevölkerung nicht erweitert, sondern immer weiter einzuschränken droht. Warum aber ist die Parteienkritik des emeritierten Hochschullehrers dann seit vielen Jahren auch bei Menschen populär, gegen deren Interessen sie sich doch richtet?
Hans Herbert von Arnims Kritik findet Gehör, weil viele Missstände, die er beschreibt, ganz real vorhanden sind. Seit vielen Jahren stellt er die "Auswüchse der Politikerfinanzierung, insbesondere Mehrfachbezahlungen und versorgungen" an den Pranger, beklagt die Verschwendung von Steuergeldern, schwarze Kassen, fragwürdige Parteispenden oder die Erhöhung von Abgeordnetendiäten durch die Volksvertreter selber. Man kann ihm zustimmen, wenn er die Ablehnung von Volksabstimmungen über den neuen EU Reformvertrag als Beispiel dafür nennt, "wie die europäische Demokratie immer weiter erodiert". Er hat richtig beobachtet, dass es in den liberalen Demokratien für den Wähler zunehmend unmöglich wird, "zwischen den einzelnen Parteien zu unterscheiden, ihnen eine bestimmte Politik zuzurechnen und sie dafür verantwortlich zu machen". Auch dass er eine größere Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen, mehr direktdemokratische Elemente sowie Plebiszite als wirksame Mittel zur Kontrolle einer verselbständigten Politikerkaste und einer korrupter Wirtschaftselite fordert, klingt zunächst nicht falsch. Sieht man sich seine Lösungsvorschläge jedoch genauer an, dann wird recht bald deutlich, dass sie gar nicht darauf zielen, die demokratischen Handlungsmöglichkeiten der Bürger zu erweitern. So warnte der vermeintliche Anwalt der sogenannten kleinen Leute angesichts der ersten parlamentarischen Erfolge der Partei Die Linke vor einer drohenden Unregierbarkeit Deutschlands, weil "durch den Einzug der Linken in Zukunft die Regierungsbildung erschwert" würde (taz, 05.08.2008). Seine Vorschläge zur Reform des parlamentarischen Systems zielen nicht auf die Erweiterung des Rahmens politischer Pluralität. Nicht um die Repräsentation eines möglichst breiten Spektrums politischer Interessen oder um die Diskussion wirklicher Alternativen ist es ihm zu tun, sondern um Maßnahmen, die den ohnehin geringen Einfluss jener Organisationen weiter beschneiden sollen, die sich für die Interessen der Lohnabhängigen und hilfebedürftigen Transfergeldbezieher einsetzen. An die Stelle einer von Parteien getragenen Politik soll eine Regierung verantwortlicher Personen treten ('responsible persons government'). Hier ist es weniger wichtig, für welches Programm die Partei eintritt, als welche Personen zur Wahl stehen." Die bisherigen Entscheidungsträger sollen mehr Machtmittel in die Hand bekommen, um das freie Walten der ökonomisch Mächtigen politisch gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen. Die demokratische Legitimationsgrundlage dafür will Arnim durch die plebiszitäre Selbstentmachtung des Wahlvolkes schaffen. Hierin liegt die eigentliche Funktion der Demokratierhetorik, die er im Munde führt. Das ist die von ihm vorgesehene Bestimmung von Volksbegehren und Volksentscheid, deren Ausweitung er bei jeder sich bietenden Gelegenheit fordert, damit "die Handlungsfähigkeit der Politik und ihr Vermögen, auf neue Herausforderungen zu reagieren, wiederhergestellt werden." Das ist weit entfernt von der Vorstellung, dass die Bürger sich künftig selbst regieren sollen. Die direkte Demokratie des Hans Herbert von Arnim meint vielmehr das genaue Gegenteil. Er will mit ihrer Hilfe "den Staat begrenzen und seinen Anteil am Sozialprodukt möglichst niedrig halten".' Der radikale Abbau des Sozialstaats begann für ihn zu spät und geht noch nicht weit genug. "Unter den Versäumnissen der letzten Jahre der Kanzlerschaft von Helmut Kohl leidet die Republik noch heute. Die Reformen, mit denen sich die Große Koalition derzeit herumquält, hätten spätestens in der Mitte der Neunzigerjahre angepackt werden müssen", schreibt er zur Zeit der ersten Kanzlerschaft von Angela Merkel. Er will das kapitalistische System mit Hilfe weitreichender politischer Reformen gegen Anfechtungen egalitär orientierter Gruppen und Parteien krisenfest absichern. Da in seinem Weltbild die privatwirtschaftliche Profitlogik und das Gemeinwohl im Grunde fast identisch sind, empfiehlt er dem politischen Personal, sich am Vorbild des autokratisch entscheidenden Wirtschaftsführers zu orientieren. Verantwortliche Politiker, wie von Arnim sie versteht, bringen "ein Verständnis für die Bedeutung und Anforderungen der Wirtschaft" auf, die sie gegen den Widerstand ihrer Parteibasis durchzusetzen verstehen. Sein politisches Denken speist sich zu großen Teilen aus der Überlieferung des konservativ geprägten deutschen Staatsrechts, das Demokratie in erster Linie als jene politische Form begreift, mit der Herrschaft heute am besten legitimiert werden kann. "Wie vormals 'Gottes Gnadentum' den Monarchen und die staatliche Administration legitimierte, so geschieht dies heute über den Wahlakt. Staatliche Herrschaft wird über den Wahlakt legitimiert, er wird nicht gedacht als Versuch, Herrschaft zu reduzieren oder aufzuheben."
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Hans Herbert von Arnims Form der Systemkritik von Rechtsaußen viel Zuspruch erhält. Sein Buch "Die Deutschlandakte" wurde in der rechten Wochenzeitung Junge Freiheit als "weiteres politisch unkorrektes Buch" begrüßt und auch im zeitungseigenen Buchdienst an hervor-gehobener Stelle beworben. Hans Herbert von Arnim wiederum revanchierte sich mit einem ausführlichen Interview bei den Rechtspublizisten. Der NPD Vorsitzende Udo Voigt erklärte eine zentrale Forderung von Hans Herbert von Arnim zum tragenden Bestandteil der Programmatik seiner Partei. Auf die Frage, wie man sich denn die von der NPD angestrebte Ordnung vorzustellen habe, antwortete er im Gespräch mit der Jungen Freiheit: "Darüber wird dann das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung entscheiden. Aber es wird eine Volksgerneinschaft sein, und ein wichtiger Eckpfeiler ist die direkte Beteiligung durch Volksabstimmungen, wie das zum Beispiel der Politologe Hans Herbert von Arnim vorschlägt?" Der NPD Führung gilt der Staatsrechtler als allseits respektierter Gewährsmann für ihre Forderung, den "Parteienstaat" zu überwinden. Johannes Müller, der stellvertretende NPD Fraktionsvorsitzende im sächsischen Landtag, ließ durch seinen Pressesprecher am 26. Mai 2008 verlautbaren: "Es stört mich, dass in der übergroßen Mehrzahl die führenden politischen Ämter nicht nach fachlicher Eignung, sondern nach Parteibuch besetzt werden und dass das System der bundesdeutschen Berufspolitik dazu geführt hat, dass man die Bundesrepublik nach Aussage von Hans Herbert von Arnim in ihrer derzeitigen Gestalt nicht mehr als Demokratie bezeichnen kann."

Präsident der Herzen
Berlin im Frühsommer 2010. Nach dem überraschenden Rücktritt des Bundespräsidenten Horst Köhler sollte die Bundesversammlung am 30. Juni das neue Staatsoberhaupt der Deutschen küren. Der gemeinsame Kandidat des bürgerlichen Lagers hieß Christian Wulff (CDU). Doch der hatte die Bevölkerungsmeinung gegen sich. So wollten es jedenfalls die Medien wissen. Im Falle einer Direktwahl würden sich nur 37 Prozent für den ehemaligen niedersächsischen Landesvater, 43 Prozent dagegen für seinen als chancenlos geltenden Konkurrenten Joachim Gauck entscheiden, hieß es Mitte Juni im ARD "Deutschlandtrend". "Yes, we Gauck" titelte BILD, und der "Dissidenten Held mit den silbernen Haaren" (dpa) wurde in öffentlich rechtlichen wie privaten Medien "als Heilsbringer gefeiert", der im Fall seiner Niederlage Wulff als "Spree Obama" (Die Presse) ein "heimlicher Gegenpräsident" zu werden drohe und tatsächlich: Nur selten hat ein Präsidentschaftskandidat so viel Begeisterung an der politischen Basis ausgelöst. Allein 36.000 Internetnutzer waren zu diesem Zeitpunkt der Facebook Gruppe "Joachim Gauck als Bundespräsident" beigetreten. Die Initiative "Bürger für Gauck Wir für Gauck" schlug die Werbetrommel. Ein Lied zu Ehren des DDR Bürgerrechtlers wurde angestimmt, Demos mobilisierten die Anhängerschaft. Schließlich ließ man in der Hauptstadt ein Bürger und Künstlerfest zu Ehren Gaucks steigen. Ins Gespräch gebracht hatte ihn zunächst der als Co Moderator von Peter Sloterdijks ZDF Talkshow "Philosophisches Quartett" bekannte Publizist Rüdiger Safranski. Er tat es gegenüber der Nachrichtenagentur dpa, wie diese am 1. Juni 2010 berichtete. "Ich wünschte mir einen solchen Quereinsteiger für das Amt des Bundespräsidenten, aber ich fürchte, dass es nicht so kommen wird". Schon einen Tag später hieß es in BILD: "Der Bundespräsident ist keine Figur auf dem Schachbrett der Parteien. Er spricht für das ganze Volk in Ost und West. 20 Jahre nach dem Einheitsjubel fehlen die Namen von Frauen und Männern, die unter der Teilung schmerzhaft gelitten, die die Mauer umgestürzt, die Mut vor Tyrannen bewiesen haben. Joachim Gauck, der erste Chef der Stasi Akten Behörde, ist einer von ihnen. Er ist in keiner Partei. Er kennt die Leiden der Opfer. Er hat Täter entlarvt. Er kämpft für die Einheit in den Köpfen der Deutschen."
Dabei waren die politischen Vorstellungen des von der SPD und den Grünen auf ihren Schild gehobenen Kandidaten im Grunde alles andere als konsensfähig und in den neuen wie in den alten Bundesländern deutlich rechts von dem, was die kriegsmüde, finanzmarktgeschädigte und Hartz IV gebeutelte Bevölkerung sich zu wünschen schien. Als wenn das große Kapital im Zuge der Finanz und Wirtschaftskrise nicht gerade bewiesen hätte, dass es politisch an die Kandare genommen gehört, verteidigte Gauck längst überholte neoliberale Glaubenssätze und wandte sich gegen Forderungen, der Wirtschaft Fesseln anzulegen. Darüber hinaus rechtfertigte der Theologe den Afghanistan Kriegseinsatz der Bundeswehr als Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung. "Er ist bekennender Trans-atlantiker, ein Mann der Kirche, der nicht nur den "Vertriebenen" treu zur Seite steht, sondern auch Schröders Agenda 2010 über den grünen Klee lobte, die Hartz IV Montagsdemonstrationen in Leipzig als 'töricht und geschichtsvergessen' geißelt und jede Regierungsbeteiligung der Linken stets ablehnte"," bemerkte ein Beobachter, der ihm eine "schon fast pathologisch zu nennende Ablehnung jeglicher sozialistischen Tendenz" bescheinigte. Als sich die Führung der SPD im Juli 2010 von der Linkspartei distanzierte, schrieb sich der "Antikommunist von Gottes Gnaden" seinem eigenen Wirken ganz unbescheiden eine Rolle dabei zu. Durch die Debatten rund um seine Kandidatur sei bei SPD und Grünen eine gewisse Distanz zu denen entstanden, die bei der Linken vom Systemwechsel redeten, wobei er Ulla Jelpke und Sahra Wagenknecht beim Namen nannte. Wochen zuvor hatte er die Linkenpolitiker als "verwöhnte Kinder der roten Bourgeoisie" bezeichnet. "Ein Präsident Gauck wäre ein Präsident des Bürgertums und kein Präsident des Volkes" gewesen. Seiner Beliebtheit scheint das jedoch auch nach seiner Niederlage keinen Abbruch getan zu haben. Wie dpa im September 2010 vermeldete, gab die Bild am Sonntag eine Emnid Umfrage in Auftrag, der zufolge der Präsidentschaftsbewerber nach seinem Scheitern im Falle einer eigenen Parteigründung im Spätsommer 2010 stolze 25 Prozent der Stimmen zu erwarten gehabt hätte. Das sind sieben Prozentpunkte mehr, als Thilo Sarrazin und fünf mehr als Friedrich Merz (CDU) in der gleichen Umfrage erhalten hatten. Im selben Monat erhielt der Ex Bundespräsidentenkandidat schließlich den Medienpreis "Goldene Henne", der von der Illustrierten Superillu, dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR), dem Rundfunk Berlin Brandenburg (RBB) und dem Friedrichstadtpalast in Berlin gemeinsam verliehen wird. Man wird fragen dürfen, ob die Sympathiewelle für Gauck nicht eher auf eine mediale Inszenierung als auf eine tatsächliche Graswurzelbewegung zurückgeführt werden muss. Gauck entspricht in wesentlichen Zügen einem Politikertypus, der sich selbst "als meta parteilich, als unabhängig und solitär" definiert und auf diese Weise auf eine Politikverdrossenheit antwortet, "die nicht zuletzt eine Parteienverdrossenheit ist"." Seine Macht erhält dieser Typus "nicht so sehr durch die parlamentarisch demokratischen Institutionen und nicht durch die Hierarchien und Allianzen der Parteien, sondern vor allem durch die Medien. Nicht Wahl oder Diskurs entscheiden über seine Macht, sondern seine mediale Präsenz möglichst überraschend, möglichst 'unpolitisch'."
Der Publizist Georg Seeßlen nennt dieses Phänomen einer Politik nach den Gesetzen der Unterhaltungsindustrie "Belusconismus": "Berlusconismus ist, unter vielem anderen, Politik für Leute, die mit Politik nichts im Sinne haben, sowohl unpolitische Politik als auch politische Un Politik." Dabei hatte er freilich weniger den ehemaligen Präsidentschaftsbewerber als den schließlich über eine Plagiatsaffäre gestürzten ehemaligen deutschen Verteidigungsminister und Unions Hoffnungsträger Karl Theodor zu Guttenberg (CSU) im Auge: "Die Herrschaft jenes Politikers ist in einem nicht unerheblichen Maße virtuell. Er geriert sich als ein 'leichter' Fall von Diktatur, er bricht Gesetze und erlässt welche nach Belieben, alles scheint an ihm neu und anders. In Wahrheit aber geht es bei ihm darum, Hemmungen und Gewichte für die freie Entfaltung der Marktführer aus dem Weg zu räumen und ansonsten alles beim alten zu belassen. Seine diktatorische und pop industrielle Anmaßung maskiert den Umstand, dass die selbst von den gemäßigten Befürwortern des freien Marktes als dringend notwendig erachteten Reformen des Kapitalismus unterbleiben." Mehr noch: Die Massenmedien, die sich heute weitgehend in privater Hand befinden und als Parteigänger des großen Kapitals angesehen werden müssen, eignen sich hervorragend als Instrument, um die gesellschaftliche Gegenmacht, die sich in linken Parteien, Gewerkschaften und Bündnissen an der Basis organisiert, in ihrer Funktion "als autonomes Zentrum intellektueller Produktion"" wirksam zu schwächen.
Die gleiche Beobachtung eines neuen Zusammenspiels von Politik und Medien machte der als Parteienkritiker populär gewordene Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim freilich mit einer völlig anderen Wertung. Während Seeßlen in der heutigen Politikerinszenierung durch die großen Medien eine Gefahr für die Demokratie erkennt, wünscht sich von Arnim mehr charismatische Figuren wie "Obama, denen sich keiner entziehen kann." Er bewundert die manipulativen Möglichkeiten der modernen Massenmedien und lässt keinen Zweifel daran, wie er ihre Macht genutzt sehen will. Sie sollen den im Interesse der Wirtschaftseliten regierenden Politikern dabei helfen, die Bürger "unmittelbar anzusprechen, die öffentliche Meinung wirksam zu mobilisieren und dadurch die Funktionäre der Parteien und anderer intermediärer Gruppen und ihr Sperrfeuer auszumanövrieren." Demokratische Willensbildungsprozesse, sprich: zeitaufwendige innerparteiliche Diskussionen und Abstimmungen über politische Richtungsentscheidungen, können umgangen werden. "Parteiführer stellen den Kontakt zur Basis unmittelbar über die Medien her und bedürfen dafür der parteilichen Organisation nicht mehr, die dadurch immer unwichtiger wird. Diese Entwicklung wurde bisher vornehmlich kritisch gesehen. Sie hat aber vielleicht auch ihre Vorzüge: Die von dem ehemaligen Bundesgeschäftsführer der SPD Peter Glotz und anderen kritisierte Tantenhaftigkeit der Parteien wird auf diese Weise kaltgestellt, ihre Bremserrolle, wenn es um Neuerungen und Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen geht, läuft leer. Die innovationsfeindlichen Auswirkungen der Parteien werden neutralisiert. [...] Die Relativierung der Rolle der Partei erleichtert es insbesondere dem Kanzler, parteiinterne Widerstände zu überwinden, die überlebten ideologischen Positionen entspringen." Denn die modernen Medienkanzler haben gelernt, ihre Bildschirmpräsens zu nutzen, um sich effektiv gegen ihre eigene Parteibasis durchzusetzen. "Das macht ein Vergleich der beiden sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Gerhard Schröder deutlich: Während Schmidt vor zwei Jahrzehnten an seiner Partei scheiterte, die ihm die Gefolgschaft aufkündigte, als es um den Abbau sozialstaatlicher Übertreibungen und die Durchsetzung des Nachrüstungsbeschlusses ging, fährt Schröder einen gezielten Kurs der 'Neuen Mitte' und lässt aufgrund seiner ständigen Fernsehpräsens der SPD kaum eine Chance, sich dagegen aufzulehnen."
Rund zehn Jahre nach der Ära Schröder ist die inhaltliche und programmatische Aushöhlung der großen Parteien in Deutschland noch weiter fortgeschritten. Ein Redakteur des konservativen Monatsmagazins Cicero diagnostizierte deshalb eine regelrechte "Parteiendämmerung", die er an den folgenden Symptomen festmacht: "Parteien setzen nicht mehr auf kollektive Werte, ideologische Grundüberzeugungen und eine verbindende Leitidee, sondern auf Markenimage, Personalisierung und Populismus. Aus den Mitgliederparteien werden professionelle Medienparteien. Im Mittelpunkt ihrer Mobilisierung und ihrer Politik steht nicht mehr der Ausgleich von Interessen zwischen gesellschaftlichen Großgruppen, sondern die Addition von Partikularinteressen."

Direktwahl des Staatsoberhaupts
Weit davon entfernt, diese autokratische Tendenz der letzten Jahre für bedenklich zu halten, sieht Hans Herbert von Arnim in ihr einen Schritt hin zu jener von ihm ganz positiv bewerteten "Konzeption 'plebiszitärer Führerschaft' die der Soziologe Max Weber in den frühen Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts als Element einer politischen Neuordnung Deutschlands nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg noch unbefangen habe entwickeln können. "Nur die Wahl eines Reichspräsidenten durch das Volk gibt Gelegenheit und Anlass zu einer Führerauslese und damit zu einer Neuorganisation der Parteien"96 hatte Weber in einem Beitrag zur Berliner BörsenZeitung vom 25. Februar 1919 geschrieben und der zögerlichen Sozialdemokratie den Gedanken damit schmackhaft zu machen versucht, dass er eine Nähe zu der damals in der Mitgliedschaft der SPD noch vorhandenen Vorstellung von der der Diktatur des Proletariats suggerierte: "Es ist sehr zu hoffen, dass die Sozialdemokratie sich nicht aus einem missverstandenen, kleinbürgerlichen, pseudodemokratischen Vorstellungskreis heraus diesen Notwendigkeiten verschließen werde. Möchte sie doch bedenken, dass die vielberedete 'Diktatur' der Massen eben: den 'Diktator' fordert, einen selbstgewählten Vertrauensmann der Massen, dem diese so lange sich unterordnen, als er ihr Vertrauen besitzt." Wirkliche Demokratie ist im Verständnis Max Webers ganz selbstverständlich mit dem Gehorsam gegenüber gewählten Führern verknüpft. "Ein volksgewählter Präsident als Chef der Exekutive, der Amtspatronage und (eventuell) Inhaber eines aufschiebenden Vetos und des Befugnisses der Parlamentsauflösung und Volksbefragung ist das Palladium der echten Demokratie, die nicht ohnmächtige Preisgabe an Müngel, sondern Unterordnung unter selbstgewählte Führer bedeutet."
Hans Herbert von Arnims eigener Vorschlag, den Bundespräsidenten künftig direkt vom Volk wählen zu lassen und zudem mit mehr Machtbefugnissen auszustatten, zielt deutlich in Richtung eines plebiszitär legitimierten Präsidialsystems, in dem die Parteien als zumindest potenzielles Gegengewicht ökonomischer Eliten so weit wie möglich neutralisiert werden. "Um die verschiedenen unabhängigen Institutionen dem Einfluss der politischen Klasse zu entziehen, wäre es sinnvoll, den Bundespräsidenten direkt zu wählen und ihm die Rekrutierung der Richter, der Beamten etc. anzuvertrauen. Diese genössen dann wirklich demokratische Legitimation. Zugleich würde der schädliche Einfluss der politischen Klasse zurückgedrängt. Die Direktwahl des Bundespräsidenten wird nicht nur von der großen Mehrheit der Bevölkerung gefordert, sie würde auch die Stellung einer vom Machtkartell der politischen Masse weitgehend unabhängigen Instanz stärken. Dem Bundespräsidenten müsste dann neben der Auswahl von Beamten und Richtern auch die Bestellung der bisherigen Parteivertreter in den Rundfunkanstalten und der Mitglieder von Rechnungshöfen und Sachverständigenräten, nicht nur formal, übertragen und dadurch der politischen Klasse die Auswahl ihrer Kontrolleure genommen werden." Präsidialregime, so meint der Staatsrechtler mit Verweis auf die Steuerreform des US Präsidenten Ronald Reagan, neigten zu einer besonders wirtschaftsfreundlichen Politik und geringeren Staatsausgaben.
Das prominente Kuratoriumsmitglied des Vereins Mehr Demokratie e. V will offensichtlich einem politischen System den Weg bereiten, in dem die ohnehin dominanten Kapitalinteressen noch besser als heute gegen die von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen erhobenen Ansprüche von oben nach unten durchgesetzt werden können. Damit findet er sich in Übereinstimmung mit einem großen Teil der deutschen Intellektuellen von der bürgerlichen Mitte bis weit an den äußersten rechten Rand. Sie alle eint die Sehnsucht nach dem "Entscheidet, der ( ... ) das für richtig Erkannte notfalls auch gegen Widerstände durchsetzt", wie Michael Paulwitz in der Jungen Freiheit diese Gesinnung zum Ausdruck brachte. "Es gibt keinen vernünftigen Grund, dem Amt des Bundespräsidenten die Direktwahl durch das Volk zu verweigern", meinte Gabor Steingart, und Reginald Grünenberg forderte: "Der Präsident soll direkt vom Volk gewählt werden und mit dieser verstärkten Legitimität die politische Klasse kritisch beobachten. Außerdem sollte die Amtsdauer auf sechs Jahre erweitert werden." Die CSU Dissidentin Gabriele Pauli vertritt die Auffassung, dass die Ministerpräsidenten und sogar der Bundeskanzler durch eine Direktwahl aller Wahlberechtigten bestimmt werden sollten "Vom Volk direkt gewählte Volksvertreter stehen weder in Abhängigkeit ihrer Parlamente noch einer Fraktion. Sie sind in ihren Entscheidungen an den Wünschen der Bevölkerung und ihrem Gewissen orientiert", heißt es in einem zur Abstimmung bei der Gründungsversammlung am 21.6.2009 in München vorgelegten Programmentwurf für die von ihr initiierte Partei Freie Union. Einen weiteren prominenten Gesinnungsgenossen haben die Freunde und Freundinnen der Direktwahl führender Politiker in Richard David Precht. "Natürlich fürchtet die Regierung völlig zu Recht, der einzige hohe Volksvertreter, den das Volk auch selbst direkt gewählt hätte, erlangte damit einen enormen Gewinn an Bedeutung", schreibt der Bestsellerautor in der Zeit (10.06.2010/Nr.24): "Und genau das ist es auch, was es braucht: eine überparteiliche Kontrolle und eine interessenunabhängige moralische Führungsfigur. Jemanden, der die Gemüter in diesem Land mit frischen neuen Ideen entfacht, statt den Status quo zu verwalten. Niemanden, der beruhigt, sondern einen, der die Beunruhigung der Menschen ernst nimmt. jemanden, der zeigt: Deutschland ist wichtiger als Merkel. Wenn all das nicht kommt, keine Revolution von oben sozusagen, so steht zu befürchten, dass schon bald eine andere heraufzieht eine von unten."
Der Politikwissenschaftler Werner Reutter sieht in Stellungnahmen wie der von Precht das verbreitete Unbehagen eines großen Teils der Eliten gegenüber der parlamentarischen Demokratie gespiegelt: "Gespeist wird es von einer Sehnsucht nach kräftigen politischen 'Führungsfiguren', nach 'Durchregieren' und nach einfachen Lösungen. Und es ist gepaart mit einer tief sitzenden Verachtung gegenüber den Parteien und dem mühseligen demokratischen Entscheidungsprozess. Stets wird dann 'das Volk' in Stellung gebracht gegen die politische Elite und gegen die Parteien. Dass es 'das Volk' als handelnde Einheit nicht gibt, sondern dass bestenfalls in Umfragen politische Meinungen erhoben werden, ist in dieser Perspektive unerheblich, demokratietheoretisch aber nicht ganz ohne Belang." Precht denunziere die Wirklichkeit der parlamentarischen Demokratie, indem er sie an der Phantasiewelt einer idealen Demokratie messe. "Diesen methodischen Trick wusste schon Carl Schmitt aufs Trefflichste anzuwenden, in gegen Parteien, Parlament und repräsentative Demokratie der Weimarer Republik zu polemisieren. Precht und viele andere stehen in dieser Tradition." So Reutter.

Die plebiszitäre Bürgermeisterverfassung als kommunales Experimentierfeld
Eines steht jedenfalls fest: Schon auf kommunaler Ebene kann mit guten Gründen bezweifelt werden, dass die Direktwahl des Bürgermeisters die demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten der lokalen Bevölkerung verbessert, denn sie geht mit einer faktischen Schwächung jener Gemeindevertretung einher, in der unterschiedliche In-teressen artikuliert sowie mehrheitliche Entscheidungen und Kompromisse durch Debatten vorbereitet werden. Die erst nach 1989 flächendeckend durchgesetzte Direktwahl der Bürgermeister hat sich in Deutschland tendenziell als Vehikel gezeigt, mit dem das autokratische Regieren gegen die Interessen der Mehrheit auf eine breite Legitimationsbasis gestellt werden konnte. Das meint jedenfalls der Bielefelder Staatsrechtler Andreas Fisahn. Zunächst hatte es nach dem Zweiten Weltkrieg in der BRD ganz unterschiedliche Kommunalverfassungen gegeben. "Die nordrhein westfälische sah beispielsweise eine Doppelspitze vor, keine Direktwahl des Bürgermeisters, sondern eine Wahl durch die Ratsmitglieder. Die süddeutschen Verfassungen legten dagegen schon immer die Direktwahl des Bürgermeisters fest." Durchgesetzt hat sich das baden württembergische Modell des direkt gewählten starken Verwaltungschefs, einer "plebiszitären Bürgermeisterverfassung" gegenüber dem NRW Modell eines starken Rates, in dem die vom Rat eingesetzte Verwaltungsspitze vom Bürgermeister als Ratsvorsitzenden getrennt ist. Die ohnehin starke Stellung des Bürgermeisters durch seinen Professionalitätsvorsprung wird durch die Direktwahl erheblich gestärkt, "weil sie dem hauptamtlichen Bürgermeister eine eigenständige Legitimationsgrundlage und damit eine größere Unabhängigkeit gegenüber der Gemeindevertretung verschafft."
In einer Kommunalverfassung mit direkt gewähltem Bürgermeister tritt an die Stelle des demokratischen Diskurses die einsame Entscheidung der Verwaltungsspitze, mit der Gefahr, dass sich die Interessen durchsetzen, die den besten Zugriff auf den Bürgermeister haben. Der direkt gewählte Bürgermeister steht eben nicht über den Parteien, repräsentiert nicht ein fiktives Allgemeinwohl gegen Sonderinteressen. Nach pluralistischem Verständnis können allgemeinverbindliche Kompromisse nur aus den verschiedenen besonderen Interessen gebildet werden und existieren nicht unabhängig von ihnen. Fisahn weist darauf hin, dass der parlamentarische Beratungsprozess in manchen Fragen übergangen werden kann, indem sich der Bürgermeister auf seine direkte Legitimation beruft. Der demokratische Diskurs werde dann ausgehebelt zugunsten einer autokratischen Entscheidung. Es sei daher ein großer demokratiepolitischer Fehler gewesen, dass, mit Ausnahme von Bremerhaven, das diese Entwicklung lediglich verschlafen habe, in allen Bundesländern flächendeckend die Direktwahl des Bürgermeisters eingeführt wurde. Hans Herbert von Arnim dagegen begrüßt diesen Systemwechsel. Schon 1990 gehörte er zu den Verfechtern einer Übernahme der plebiszitären Bürgermeisterverfassung süddeutscher Prägung durch die anderen Bundesländer. Heute in allen dreizehn Flächenstaaten durchgesetzt, habe "diese Entwicklung eine gewisse Begrenzung des Parteienmonopols in den Kommunen gebracht". Darum geht es ihm vor allem: Die Schwächung der Par-teien. Ihre Stellung werde durch die Reformen zumindest auf kommunaler Ebene abgemildert, ihr Monopol bei der Rekrutierung des politischen Personals gelockert. In Baden Württemberg hätten über 50 Prozent der direkt gewählten Bürgermeister kein Parteibuch und diejenigen, die einer Partei angehörten, pflegten ein eher distanziertes Verhältnis zu ihr, um auf diese Weise glaubwürdig als Repräsentant der gesamten Gemeinde auftreten zu können.

Plebiszitäres Präsidialsystem oder: Die NPD wird bürgernah
Ein großer Schritt scheint nötig, um von Hans Herbert von Arnims Begeisterung für die Direktwahl der Bürgermeister zu den demokratiepolitischen Forderungen der NPD zu gelangen. Aber der angesehene Staatsrechtler gehört zu den wichtigsten Referenzautoren der NPD Führung im bürgerlich demokratischen Lager. Dazu später mehr. Schon der Sachverhalt, dass sich die Neofaschisten überhaupt mit dem Demokratiethema befassen, mag manchem erstaunlich erscheinen. Doch verhält es sich damit ganz ähnlich wie mit ihrem sozialpolitischen Engagement. Dass die NPD seit einer ganzen Reihe von Jahren durch eine intensive Basisarbeit und eine geschickte soziale Demagogie erfolgreich auf Anhänger und Stimmenfang geht, hat sich mittlerweile herumgesprochen und wurde in verschiedenen Publikationen untersucht)" Die Neofaschisten verfahren dabei nach der Devise ihres konzeptionellen Ideologen Norbert Gansel, "die Position des Antikapitalismus aus den Traditionsbeständen der Linken herauszubrechen". In Sachsen und Mecklenburg Vorpommern fanden die Neonazis damit so viel Gehör, dass sie in die Landtage einzogen. Durch die Ausübung von Ehrenämtern, Vereinsmitgliedschaften und sozialen Initiativen erwarb sich die "braune Caritas" eine wachsende Akzeptanz in der Bevölkerung strukturschwacher Regionen. Weniger bekannt ist das Ausmaß, in dem die als ausgesprochen autoritär geltende Partei seit langem auch die direktdemokratische Klaviatur zu Spielen in der Lage ist.
Für das Parteiprogramm der NPD steht seit langem außer Frage, dass das Staatsoberhaupt über den Parteien und dem politischen Tageskampf stehen und deshalb, "unmittelbar durch das Volk gewählt werden" soll. Das Konzept des plebiszitären Präsidialsystems hilft dabei, den scheinbaren Gegensatz zwischen starker Führung und direkter Demokratie zu überbrücken. "Wir wollen das liberale Parteienregime ganz demokratisch! durch ein neues Gemeinwesen mit einem volksgewählten Präsidenten und Volksabstimmungen in allen Lebensfragen der Nation ablösen. Ein solches plebiszitäres Präsidialsystem würde die deutsche Politik aus dem Würgegriff der Blockparteien und der eigensüchtigen Interessengruppen befreien. Es entstünde eine wirkliche Volksherrschaft mit einer 'Identität von Re-gierten und Regierenden' (Carl Schmitt)", erläutert eine interne Schulungsbroschüre. Vor diesem Hintergrund tönt es dann auch nicht mehr so erstaunlich, dass die NPD Fraktion im Sächsischen Landtag den Vorschlag des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler ausdrücklich begrüßte, das von ihm ausgeübte Amt künftig durch eine direkte Wahl zu besetzen. "Zu den wichtigsten nationaldemokratischen Reformvorschlägen für das Grundgesetz zählt seit der Gründung der NPD im Jahr 1964 auch unsere Forderung nach einer Direktwahl des Bundespräsidenten durch das Volk, die mit einer Direktwahl der Ministerpräsidenten in den Ländern gekoppelt werden sollte", sagte Johannes Müller, Parlamentarischer Geschäftsführer der NPD Fraktion im sächsischen Landtag im Juni 2007, und weiter: "Eine Wahl durch das Volk ist dem Amt des Bundespräsidenten sicherlich angemessener und auch demokratiepolitisch begründeter als eine Wahl durch eine Bundesversammlung, die zum Teil aus nach dem Zufallsprinzip zusammengewürfelten Promis und Sportlern besteht. Unserer Ansicht nach sollte der Bundespräsident auch mehr als nur eine rein repräsentative Funktion haben, um ein Gegengewicht zu dem von zahlreichen Sonderinteressen beherrschten Parteienstaat bilden zu können."
Als Köhler seinen Vorschlag 2009 noch einmal wiederholte, kommentierte das NPD Blatt Deutsche Stimme am 26. Mai: "In der Verfassungsordnung der Bundesrepublik werden nur die Abgeordneten vom Volk gewählt, und selbst von denen nicht alle direk4 sondern ein erheblicher Teil über die Listen der Parteien. Alle anderen Ämter, vom Staatsoberhaupt über die Regierungsspitze bis zu Richtern am Bundesverfassungsgericht, werden durch indirekte Wahl besetzt. Ein Präsident, der sich auf Volkes Stimme stützen könnte, hätte also eine andere und absehbar: stärkere demokratische Legitimation als die "nur" vorn Parlament gewählte Kanzlerin, die obendrein vom gleichen Parlament auch wieder abgewählt werden könnte. [...] Allerdings macht eine Direktwahl des Bundespräsidenten unter den jetzigen Bedingungen auch wirklich keinen Sinn. Der Bundespräsident ist auf dem Papier das Staatsoberhaupt, hat aber anders als in Frankreich und den USA nur viel zu sagen, doch faktisch nichts zu bestimmen. Er hat keinerlei gestalterische Macht. Dieses Amt also durch eine Direktwahl aufzuwerten, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Vielmehr muss mit der Forderung einer Direktwahl des Bundespräsidenten auch die Stärkung des Amtes einhergehen. Der Bundespräsident darf dann nicht mehr der politische Eunuch sein, der lediglich die Abteilung "warme Worte" zu betreuen hat. Wer durch die Direktwahl des Bundespräsidenten die Demokratie aufwerten will, der muss auch dazu bereit sein, den Parteien die Macht zu nehmen. Einem zahnlosen Tiger nun durch Plebiszit die Krone aufsetzen zu wollen, ist eine Scheindebatte. Bis jetzt prüft der Bundespräsident die Gesetze nur dahingehend, ob sie verfassungskonform sind. Er müsste dann aber auch inhaltlich Kritik üben dürfen und aktiv in Gesetzgebungsprozesse eingreifen. Die Angst der Parteien davor, dass dadurch ihre Allmacht in Frage gestellt werden könnte, ist aus ihrer Sicht verständlich. Der Bundespräsident könnte sich durch die Direktwahl auf eine größere demokratische Legitimation berufen als jeder andere staatliche Repräsentant inklusive der Kanzlerin. Für die notwendige Demokratiereform und die Stärkung der direkten Volksherrschaft wäre das sicherlich ein großer Schritt nach vorne."

Die Linke und eine reaktionäre Tradition
Die meisten Verfechter der Direktwahl des Bundespräsidenten haben mit der NPD ansonsten nicht viel gemeinsam, aber wie groß oder klein die Übereinstimmung in anderen politischen Forderungen auch sein mag: Zumindest in diesem Punkt bewegen sie sich alle wissentlich oder unwissentlich in den ausgetretenen Pfaden der als besonders reaktionär geltenden klassischen Staatsrechtslehre deutscher Provenienz. Diese Tradition des politischen Denkens sieht in der Demokratie nicht eine Tendenz zur Aufhebung von Herrschaft, sondern lediglich eine ihrer möglichen Legitimationsressourcen. "Nach dieser Lehre braucht es immer Herrschaft, und es geht nur noch darum, sie zu legitimieren. Man hat lediglich den Legitimationsmodus gewechselt, nämlich das Gottesgnadentum durch die Wahl durch das Volk ersetzt", sagte der Bielefelder Staatsrechtler Andreas Fisahn am 20. Dezember 2008 im Interview mit der Jungen Welt. Schon die Direktwahl der Bürgermeister, aber mehr noch die der Ministerpräsidenten oder des Bundespräsidenten seien keinesfalls Garantien für mehr Bürgerbeteiligung, sondern vielmehr Elemente einer deutlich autokratischen Politik: "Der Ministerpräsident kann gegen das Parlament regieren. Das Parlament wird abgewertet und als bloße Quatschbude betrachtet. Das ist nicht demokratisch, sondern autokratisch. Beim Bundespräsidenten ist es so: Solange er kaum Kompetenzen hat, ist es nicht so relevant, ob er direkt gewählt wird oder nicht. Wenn er aber mehr Kompetenzen bekommt, hat man das gleiche Problem wie in der Weimarer Reichsverfassung. Damals ist der direkt gewählte und mit erheblichen Befugnissen ausgestattete Reichspräsident gegen die Parteien und die Regierung ausgespielt worden. Er konnte das Parlament auflösen und mit Notverordnungen regieren. Bestrebungen, die Kompetenzen des Bundespräsidenten zu stärken, führen in diese Richtung und sind deshalb grundverkehrt".
Während es sich bei Volksentscheiden und Volksinitiativen um Verfahren handelt, die im Rahmen der herrschenden Wirtschaftsordnung zwar häufiger, als viele meinen, eine kapitalfreundliche Tendenz zeigen können, aber von ihrer Grundanlage her dem Ideal der Volkssouveränität durchaus nahekommen, handelt es sich bei Vorschlägen, die eine Direktwahl hoher Staatsämter vorsehen, um Ideen mit einer von vornherein deutlich obrigkeitsstaatlichen Schlagseite. Es handelt sich um die neue Spielart einer bonapartistischen Propaganda, die darauf zielt, die Gesellschaft schrittweise in vereinzelte Individuen aufzulösen, die in einem direkten Verhältnis zu ihren gewählten Führern stehen, statt sich in Gruppen und Organisationen zu verbinden, die gemeinsam für ihre Interessen streiten. Die politischen Führer sollen dann von einem seiner "bescheidenen Mittel zu einer autonomen geistigen und politischen Produktion beraubten und wehrlos der totalen Übermacht der monopolistischen Massenmedien der Großbourgeoisie ausgelieferten Volk direkt bestimmt werden"."" Anvisiert ist eine atomisierte Massengesellschaft, in der die unteren Klassen über keine schlagkräftigen Gewerkschaften, Parteien oder andere kollektive Möglichkeiten, mehr verfügen, mit denen sie den organisierten Interessen des Kapitals wirksam entgegentreten könnten. Wer in den Ruf nach der Direktwahl der Ministerpräsidenten, des Bundespräsidenten oder des Kanzlers einstimmt, stärkt daher rechtspopulistische Positionen und betreibt das Geschäft jener Teile der ökonomischen Elite, die ihre Interessen durch eine starke Hand durchgesetzt sehen wollen.
Umso überraschender ist es, dass sich ausgerechnet führende Politiker der Linkspartei in den vergangenen Jahren immer wieder zu eben solchen Forderungen haben hinreißen lassen. Als etwa der gerade wiedergewählte Horst Köhler 2009 vorschlug, das höchste Staatsamt künftig direkt vom Volk wählen zu lassen, fand er diesen Vorstoß vom damaligen Linken Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch nicht nur unterstützt, sondern auf eine demokratiepolitisch besonders heikle Weise auch noch überboten. "Wenn man dieses macht, wenn man hier wirklich sagt, ja, mehr direkte Demokratie, dann bitte auch mit entsprechenden Kompetenzen". Die Befugnisse des Bundespräsidenten dürften nicht damit enden, "ob man Gesetze unterschreibt oder nicht unterschreibt". Bartsch war damit keineswegs allein auf weiter Flur. "Der Vorschlag, den Bundespräsidenten direkt vom Volk wählen zu lassen, wäre ein Ausbau der direkten Demokratie und findet daher unsere Unterstützung", hatte Oskar Lafontaine schon im Jahr 2007 verkündet, und die stellvertretende Parteivorsitzende Sahra Wagenknecht äußerte noch im Juni 2010 gegenüber bild.de: "Ich bin dafür, die Elemente direkter Demokratie in Deutschland auszuweiten. Fundamentale politische Entscheidungen sollten vom Volk direkt getroffen werden. In diesem Sinne wäre es dann wünschenswert, dass auch das Staatsoberhaupt direkt vom Volk gewählt wird, wenn es gleichzeitig mit mehr Kompetenzen ausgestattet werden würde." Für Gregor Gysi hat es sogar Sinn, "den Kanzler oder die Kanzlerin direkt zu wählen". Denn dieses Amt sei bereits mit den entsprechenden Handlungskompetenzen ausgestattet. Anscheinend ist man sich in der Parteiführung der Linken nicht bewusst, wessen Geschäft man mit der Forderung nach dem Ausbau der Macht und der Direktwahl des Bundespräsidenten und damit der Stärkung der Exekutive auf Kosten des Parlaments betreibt. Auf die undemokratischen Implikationen der Direktwahl hingewiesen, machte Wagenknecht immerhin deutlich, dass sie in der Stärkung der Macht des Bundespräsidenten zumindest keine vorrangige demokratiepolitische Aufgabe für die Linke sieht. "Ich vertrete nicht die Auffassung, dass wir die Demokratie dadurch wiederherstellen, indem wir den Bundespräsidenten direkt wählen. Ich vertrete die Auffassung: Solange die Wirtschaftsmacht nicht aufgehoben ist, ist es völlig egal, ob wir das heutige System haben oder einen direkt gewählten Bundespräsidenten. Es wird in beiden Fällen die Regierung und die Macht des Kapitals sein."


Befürwortung machtvoller Führer durch Direktwahl von Hans Herbert von Arnim in: "Das System", Kopp Verlag 2001 (S. 336 ff.)
Beispiel 2: Direktwahl des Ministerpräsidenten
Die Direktwahl der Oberbürgermeister und Landräte in Großstädten und Kreisen kann Vorbild auch für die Wahl von Ministerpräsidenten sein. Kleine Bundesländer wie das Saarland oder die Stadtstaaten Hamburg und Bremen sind kaum größer als Großstädte wie München und Köln. Berücksichtigt man weiter, dass die Hauptfunktion der Bundesländer genau wie die der Städte und Gemeinden in der Ausführung fremder Gesetze besteht, liegen Anleihen bei der Kommunalverfassung In der Tat besonders nahe. Ein Blick auf die Schweizer Kantone weist in dieselbe Richtung.
Bei Direktwahl des Ministerpräsidenten wäre uns der Skandal um Gerhard Glogowski in Niedersachsen erspart geblieben, weil er von vornherein wahrscheinlich gar nicht gewählt worden wäre. Und ob sein Nachfolger, Sigmar Gabriel, vom Volk gewählt worden wäre, ist ungewiss. In jedem Fall hätte er dann die für kraftvolles Regieren nöti-ge demokratische Legitimation.
Ein direkt gewählter Ministerpräsident könnte Reformen in Gang bringen, die bisher als unrealistisch gelten. Er könnte mit einem glaubwürdigen Programm zur Reform der Verwaltung Wahlen gewinnen und hätte dann die Legitimation, die Reform notfalls auch gegen den Widerstand der öffentlichen Bediensteten (innerhalb und außerhalb des Parlaments) und ihrer Gewerkschaften durchzuführen ähnlich wie der erste direkt gewählte Oberbürgermeister von Offenbach, Gerhard Grandke, sich die Legitimation für seine durchgreifende Sanierung der städtischen Finanzen aus der Wahl durch die Bürger geholt hat.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die vergleichende Forschung starke Belege dafür liefert, dass Präsidialregime zu geringeren Staatsausgaben neigen.' Die französische Erfahrung mit ihrer 'V. Republik, mit der 1958 ein Präsidialsystem eingerichtet und die vorher völlig aus dem Ruder gelaufenen Staatsfinanzen rasch saniert wurden, scheint also kein Einzelfall zu sein, ebenso wenig das Gelingen der großen Steuerreform durch Ronald Reagan in den Vereinigten Staaten, die allerdings nur auf der Basis der "tax revolt" Stimmung möglich wurde, die durch den erfolgreichen Volksentscheid in Kalifornien geschaffen worden war (siehe S. 329). Die Steuerreform hat zum zehnjährigen Florieren der amerikanischen Wirtschaft und der früher für utopisch gehaltenen totalen Beseitigung der Nettokreditaufnahme auf Bundesebene, ja der Erwirtschaftung sogar eines Überschusses, beigetragen.
Ein direkt gewählter Ministerpräsident könnte eine Kampagne für eine durchgreifende Reform der Schulen und Hochschulen des Landes führen und sie nach seiner Wahl auch wirklich durchsetzen. Direkt gewählte Ministerpräsidenten könnten also das bewirken, wozu verbeamtete Parteien und Parlamente mangels Distanz zur Verwaltung und zum öffentlichen Dienst nicht in der Lage sind, weder bei Aufstellung des (Wahl )Programms noch später bei den politischen Entscheidungen. Direkt Gewählte wären ihren Wählern verpflichtet und niemandem sonst. Sie würden sich auch im Bundesrat weniger leicht parteipolitisch gleichschalten und zu einer machtpolitisch bedingten Blockade hinreißen lassen. Sie wären eher bereit, aus dem (rechtlich ja meist gar nicht verbindlichen) Länderverbund auszuscheren und im Interesse ihrer Bürger weiterführende Innovationen zu wagen.
Würde der Ministerpräsident in einem deutschen Bundesland direkt gewählt und hätten die Bürger die Möglichkeit, bei Landtagswahlen ihre Stimmen auf bestimmte Personen zu häufeln und auch andere Namen hinzuzufügen (wie bei den süddeutschen Kommunalwahlen), würden nicht nur die Gewaltenteilung und die Verantwortlichkeit der Amtsträger wiederhergestellt, sondern insgesamt mehr Handlungsfähigkeit und mehr Bürgernähe der Politik ermöglicht; auch das freie Mandat würde automatisch wieder Effektivität erlangen, weil die Parlamentarier sich persönlich profilieren und nicht mehr geschlossen die Regierung stützen müssten.
Die Auswahl des Spitzenpersonals durch das Volk erhält umso größeres Gewicht, als andere Wege der Bürgermitwirkung weitgehend verstopft sind: Die Hoffnung auf parteiinterne Mitwirkung, auf die Leibholz setzte, hat sich nicht erfüllt, weder quantitativ noch qualitativ (siehe oben S. 250 ff.). Auch die Vorstellung von Wahlen als QuasiAbstimmungen über Sachfragen und inhaltliche Programme hat sich als Fiktion erwiesen. Welcher Bürger weiß schon, wofür die Parteien, die sich im Übrigen immer mehr angleichen, in der Sache noch stehen? Die Parteien neigen ja dazu, sich im Wahlkampf um klare Sachaussagen herumzudrücken. Selbst Schumpeters radikale Verkürzung der Bürgerfunktion auf die Auswahl der Führungspersonen ist auf die angloamerikanische einfache Mehrheitswahl gemünzt und bleibt bei unserem deutschen Verhältniswahlsystem oft Illusion. Die eigentliche Entscheidung, wer die parlamentarische Mehrheit bildet und Regierung und Regierungschef stellt, trifft bei uns regelmäßig eine Hand voll politischer "Elefanten" in Koalitionsverhandlungen nach den Wahlen, und oft geben die Führer kleiner Parteien letztlich den Ausschlag. Sind aber alle bisher angebotenen Partizipationswege Sackgassen, die nicht zum Ziel führen, erscheint es nur konsequent, dem Bürger einen neuen Weg zu eröffnen und ihm mit der Direktwahl des Ministerpräsidenten eine echte Personalauswahl in die Hand zu geben.
Der Vorschlag, den Ministerpräsidenten als Spitze der Exekutive direkt vom Volk wählen zu lassen, den ich seit längerem befürworte, geht auf einen der Väter der deutschen Politikwissenschaften, Theodor Eschenburg, zurück. Er wurde in jüngerer Zeit von Kennern der Landespolitik wieder aufgegriffen, so vom Direktor des Bundesrats, dem früheren niedersächsischen Landesminister Georg Berndt Oschatz, vom früheren niedersächsischen Landtagsdirektor HansHorst Giesing und vom früheren Präsidenten der Berliner Humboldt-Universität, dem Staatsrechtslehrer Hans Meyer. Die "Frankfurter Intervention", eine parteiübergreifend zusammengesetzte Gruppe von bekannten Wissenschaftlern, Politikern und Journalisten, hat sich den Vorschlag zu Eigen gemacht. Auch die österreichische Reformdiskussion hat ihn aufgegriffen.
Die Entmachtung der Landesparlamente, der krasse Rückgang ihres Einflusses und die Verschiebung der Gewichte immer stärker hin zu den Landesregierungen und den Ministerpräsidenten, die von ihren Parlamenten gerade in den Landesdomänen, der Ausführung von Bundesgesetzen und der bundespolitischen Mitgestaltung im Bundesrat, nicht mehr wirksam kontrolliert werden, lassen es als immer schiefer und inadäquater erscheinen, wenn nur das politisch weitgehend entleerte Parlament, nicht aber der eigentliche Träger der Landesgewalt, die Regierung und insbesondere der Ministerpräsident als Regierungschef, durch direktdemokratische Wahlen legitimiert und kontrolliert wird. Die Kastrierung der Landesparlamente einerseits und die Aufwertung der "Landesfürsten" bei gleichzeitig ungenügender parlamentarischer Kontrolle andererseits verlangen umso mehr nach entsprechenden verfassungsstrukturellen Konsequenzen, als die Länder im Bereich der Landesverfassungen und des Wahlrechts weitgehende Autonomie besitzen und diese zu innovativen Verbesserungen nutzen könnten und nutzen sollten.
Dass auf diese Weise das Parlament geschwächt würde, ist schlicht falsch, obwohl dieses suggestive Argument bei den Verteidigern des bestehenden Systems besonders beliebt ist. Der Landtag verliert zwar die Kompetenz, den Ministerpräsidenten zu wählen; doch diese Kompetenz ist ohnehin eine rein formalrechtliche. Wer Ministerpräsident wird, bestimmen tatsächlich entweder die Wähler insofern haben die Landtagswahlen bereits jetzt eine Art plebiszitären Charakter oder, bei Koalitionsregierungen, einige wenige politische Elefanten, deren Vorentscheidungen von Fraktionen und Parteien dann in aller Regel nur noch abgenickt werden. Bei vorzeitigem Ausscheiden von Ministerpräsidenten aufgrund von Skandalen, aus gesundheitlichen Gründen oder gelegentlich auch durch konstruktives Misstrauensvotum pflegt die Vorentscheidung über die Nachfolge erst recht in der Hand kleiner Kungelrunden zu liegen.
Im Falle der Direktwahl des Ministerpräsidenten würde das Parlament im Gegenteil aufgewertet. Dem Regierungschef stände ein selbstbewusster Landtag gegenüber. Die Parlamentsmehrheit würde aus ihrer Abhängigkeit von der Regierung befreit. Denn in Wahrheit ist es im parlamentarischen System ja nicht das Parlament, das die Richtung bestimmt und die Regierung kontrolliert, sondern es ist umgekehrt die Regierung, die wie Alexander Solschenizyn treffend bemerkt hat ihre Fraktion (oder im Falle der Koalitionsregierung ihre Fraktionen) unter Kontrolle hält." Die Parlamentsmehrheit und die Masse ihrer Abgeordneten werden so zum bloßen Anhängsel der Regierung. Eine wirksame öffentliche Kontrolle der Regierung durch das Parlament, das heißt vor allem durch seine Mehrheit, die das Sagen hat, gibt es nicht mehr. Dieser "dem parlamentarischen System immanente Gefolgschaftszwang" würde wegfallen, wenn die Parlamentsmehrheit die Regierung nicht mehr wählen und an der Macht halten müsste. Die Parlamentsmehrheit (und damit auch das Parlament insgesamt) würde an politischer Freiheit gewinnen und könnte in viel stärkerem Maße als bisher zu einem eigenständigen politischen Machtfaktor werden. Das käme der Gewaltenteilung und der wirksamen Kontrolle der Regierung zugute, die sich dann auch auf grundsätzliche Fragen bezöge. Bisher liegt die "Richtlinienkontrolle" in der Praxis bei der Opposition.
Insofern führen die überkommenen Begriffe völlig in die Irre: In der so genannten parlamentarischen Demokratie ist das Parlament nicht etwa besonders stark. Wegen der machtpolitischen Verkopplung der Parlamentsmehrheit mit der Regierung ist das Parlament vielmehr ausgesprochen schwach, viel schwächer als in der so genannten Präsidialdemokratie, bei der das Volk die Regierungsspitze direkt wählt und das Parlament in der Regel sehr viel selbstbewusster und kontrollfreudiger ist als im parlamentarischen System.
Auch der Einwand, das Regieren werde unmöglich, wenn die Parlamentsmehrheit einer anderen Partei (oder anderen Parteien) angehöre als der Ministerpräsident, trifft nicht zu. Das zeigen schon die Erfahrungen anderer Präsidialdemokratten, zum Beispiel der USA, wo das Regieren unterschiedlicher Parteien im Präsidentenamt und im Kongress ("divided government") inzwischen fast die Regel ist. Auch das vorbildliche Funktionieren der süddeutschen Kommunalverfassung, einer Art Präsidialverfassung auf lokaler Ebene, die in den Neunzigerjahren auch von allen anderen Flächen Bundesländern übernommen wurde, widerlegt die Befürchtung. Hier regiert die Exekutivspitze häufig ebenfalls mit einer anders gepolten Mehrheit in der Kommu-nalvertretung, ohne dass es zu größeren Unzuträglichkeiten kommt. Es wäre nur wichtig, dass das Landtagswahlrecht personallsiert wird und dadurch die Bereitschaft der Abgeordneten, Kompromisse um der Sache willen einzugehen, tetidenziell erhöht wird. Angesichts der geringen Bedeutung der Landesgesetzgebung könnte darauf äußerstenfalls sogar für einige Zeit verzichtet werden. Das hat der Gießener Staatsrechtslehrer und Richter am Bundesverfassungsgericht Brun-Otto Bryde klar herausgestellt: "Wenn es hart auf hart geht, braucht man auf Landesebene" schon im bisherigen System "eine Mehrheit nur für die Wahl der Regierung" (die in unserem Reformmodell aber gerade durch das Volk erfolgt) "und für die Verabschiedung des Haushalts, im Übrigen lässt sich in den Ländern für eine gewisse Zeit auch ohne Parlament regieren. Langjährige Minderheitsregierungen im Saarland, in Hamburg und nunmehr auch in Sachsen Anhalt haben das belegt". Im Notfall lässt sich selbst ohne Haushaltsbeschluss des Parlaments regieren: Die Landesverfassungen treffen für diesen Fall durchweg Vorsorge im Wege des so genannten Nothaushaltsrechts (für den Bund: Art. 111 GG).
Die Direktwahl des Ministerpräsidenten und andere Reformen der Landesverfassung stehen in einem gewissen Zusammenhang zur Reform des bundesrepublikanischen Föderalismus. Umstritten ist allerdings, welche Art von Zusammenhang dies ist. Der Politikwissenschaftler Herbert Schneider meint beispielsweise, man könne den Landesparlamenten den Verlust, "den sie durch Abschaffung der Wahl des Ministerpräsidenten erlitten", nur zumuten, "wenn im Zuge eines stärkeren Konkurrenzföderalismus die Länder Zuständigkeiten zurückerhielten, die Gesetzgebungsfunktion der Landesparlamente wieder aufgewertet und damit ein Ausgleich für den Verlust ihrer Wahlfunktion geschaffen würde".
Dabei bleiben aber zwei Fragen offen:
1. Wollen die Landesparlamente denn wirklich mehr Gesetzeskompetenzen oder ist ihnen der schleichende Entzug von Verantwortung im Lauf der vergangenen Jahrzehnte nicht vielleicht insgeheim ganz recht gewesen? Und weiter:
2. Können die Länder die Verantwortung übernehmen oder bedarf es dafür als Voraussetzung nicht vorab einer großen Landesverfassungsreform? Gab es nicht in der Vergangenheit auch in der Sache gute Gründe dafür, dass den Ländern die Gesetzgebungskompetenzen entzogen und auf den Bund übertragen wurden? Dafür sprechen in der Tat manche schlechten Erfahrungen mit Produkten der Gesetzgebung, als diese noch in der Hand der Länder lag.
In Wahrheit dürfte es also umgekehrt sein: Eine grundlegende Reform der Landesverfassung ist Vorbedingung für die Rückübertragung von Gesetzeskompetenzen auf die Länder, und eine solche Rückübertragung muss man entgegen manchen öffentlichen Erklärungen dann vielleicht gegen die Interessen von Berufspolitikern in den Ländern durchsetzen. Die Landesverfassungsreform hat also Vorrang, und zwar in doppelter Hinsicht: nicht nur als Bedingung für den Erfolg einer bundesweiten Föderalismusreform, sondern auch in Bezug auf die praktische Durchsetzbarkeit. Eine Landesverfassungsreform könnte im Wege der Volksgesetzgebung erfolgen, also an den Eigeninteressen der politischen Klasse in den Parlamenten vorbei.
Die Frage, ob auf Bundesebene eine Präsidialverfassung nicht dem bestehenden parlamentarischen System vorzuziehen wäre, soll hier nicht behandelt werden, schon wegen ihrer praktischen Irrelevanz. Wir beschränken uns ausdrücklich darauf, ein "präsidiales" System auf Landesebene vorzuschlagen, weil eine solche Reform auf Landesebene wirklich durchsetzbar erscheint, und wollen zu der ganz anderen Situation auf Bundesebene hier keine Ausführungen machen. Das wäre ein neues großes Thema. Die Frage wurde bei der Konzeption des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat diskutiert. Anträge auf Einrichtung eines Präsidialsystems stellten die beiden FDP Abgeordneten Thomas Dehler und Max Becker. Als es im Hauptausschuss zur Grundsatzentscheidung zwischen parlamentarischem und präsidialem Regierungssystem kam, stimmten von achtzehn Abgeordneten elf gegen den Antrag, zwei dafür, und fünf enthielten sich der Stimme. Immerhin täte eine tabufreie Diskussion auch hier vielleicht ganz gut. Es ist bekannt, dass das parlamentarische System die dominante Rolle der politischen Parteien fördert, während das Präsidialsystem das Gegenteil bewirkt. Wer ernsthaft den Parteienstaat zurückdrängen will, wird ebenso wie den Übergang zu einem Wahlrecht mit flexiblen Listen oder zur Mehrheitswahl auch diesen Ansatz prüfen müssen.


Aus Wagner, Thomas (2011): "Demokratie als Mogelpackung", PapyRossa in Köln (S. 91f)
»Die neuen, postrepräsentativen Dimensionen der Demokratie begünstigen überwiegend die gebildeten und artikulierten Mittelklassen. In Bürgerinitiativen und Nichtregierungsorganisationen, in der europäischen und globalen Politik ebenso wie in der Nutzung des Internets sind die Arbeiter- und Unterschichten, die formal weniger Gebildeten, oft auch Migranten wesentlich seltener anzutreffen, weil sie die materiellen und kulturellen Zutrittsschwellen nur schwer überschreiten können. …
Parteien und Abgeordnete sind dazu gezwungen, sich um unterschiedliche soziale Gruppen und Schichten zu kümmern, wenn sie Wahlen gewinnen wollen. Die Bürgergesellschaft dagegen, so der Parteienforscher Franz Walter, brauche nur auf diejenigen zu hören, die sich selbst Aufmerksamkeit verschaffen können. In ihr »wird die Schere noch größer zwischen denen, die durch erfolgreiche Teilhabe eine hohe gesellschaftliche Integration und Dominanz erreichen, und jenem abgedrängten, zahlenmäßig keineswegs kleinen Rest, an dem die Entwicklung der modernen Wissensgesellschaft vorbeigeht.« …
Die neuen Beteiligungsformen, weiß die Soziologin Petra Böhnke, verlangen ein hohes Kompetenzniveau in Bezug auf Verhandlungsgeschick, strategisches Denken, Redegewandtheit und Selbstvertrauen. Arbeiter und Erwerbslose sind in Bürgerinitiativen, Bürgerausschüssen und Elternbeiräten kaum oder höchst unterrepräsentativ vertreten. »Sie werden von den Mittelschichtlern mit Abitur und Hochschulabschluss an die Wand geredet und an die Wand gedrückt.« Auf diese Weise, so Walter weiter, verfestige bürgergesellschaftliche Partizipation die Elitenstruktur moderner Demokratien und fördere dadurch noch die Oligarchisierung des Willensbildungsprozesses.


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