Schwarzstrafen

THEORIE-TEXTE ZUM KAPITALISMUS

Forschung, Wissenschaft und Profit


1. Kapitalismus: Begriff und Wirkungsweise
2. Markt, Konkurrenz, Wachstum
3. Herrschaft als Schnittmenge emanzipatorischer Bewegung
4. Zu Triple Oppression und Unity of Oppression
5. Sozialrassismus
6. Forschung, Wissenschaft und Profit
7. Links

Aus Torsten Wilholt (2012): „Die Freiheit der Forschung“ (S. 328ff.)
Die Kommerzialisierung akademischer Forschung
Es gehört zur Realität wissenschaftlicher Forschung in der heutigen Zeit, dass ein großer Teil von ihr auf kommerzielle Interessen ausgerichtet ist. In Deutschland trug die Wirtschaft zuletzt 68,1 Prozent der Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, in den USA waren es 66,4 Prozent und in Japan 77,7 Prozent. Dieser Anteil der Wirtschaft ist in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen; 196z betrug er in Deutschland noch rund 48 Prozent, 198z rund 55 Prozent und 1996 rund 61 Prozent. (Zwar sind diese Angaben in ihrer Aussagekraft für die wissenschaftliche Forschung wegen der Schwierigkeiten der Differenzierung zwischen Forschung und Entwicklung interpretationsbedürftig; an einem insgesamt sehr großen Anteil wirtschaftlichen Engagements insbesondere in der natur und ingenieurswissenschaftlichen Forschung der Gegenwart dürfte aber kein Zweifel bestehen.)
Dass das Forschungsengagement der Wirtschaft stärker gewach sen ist als das öffentliche, schlägt sich nicht nur in unternehmenseigener Forschung nieder. Die Forschungs und Entwicklungsaktivitäten der deutschen Hochschulen beispielsweise wurden 2005 zu 14,1 Prozent aus der Wirtschaft finanziert (1995 waren es noch 8,2 Prozent, 1981 nur 1,8 Prozent). Die Formen der Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Universitäten (und anderen öffentlichen Forschungseinrichtungen) sind dabei vielfältig. Fälle, in denen die Forschung an öffentlichen Einrichtungen von Wirtschaftsunternehmen finanziert wird, reichen von der Förderung einzelner Promotionsprojekte bis hin zu millionenschweren Deals wie dem-jenigen zwischen Novartis und der Abteilung für Pflanzen und Mikrobiologie der Universität Berkeley. Novartis stellte über fünf Jahre hinweg z5 Millionen Dollar zur Verfügung (entsprechend 30 bis 40 Prozent des gesamten Forschungsbudgets der Abteilung) und erhielt dafür zwei von fünf Sitzen in dem Gremium, das über die Verwendung der Mittel in Forschungsprojekten verfügte, sowie das Recht auf exklusive Lizensierung der Forschungsergebnisse. Neben dem bloß finanziellen Engagement gibt es auch Formen der Kooperation von unternehmensinterner und öffentlicher Forschung. Zum Beispiel engagierten sich die Philips Forschungslaboratorien Anfang der 1990er Jahre stark bei der Erforschung des 1988 entdeckten Riesenmagnetowiderstandseffektes (der heute die Grundlage für die aktuelle Generation von Leseköpfen für magnetische Datenspeichermedien liefert). Die konkrete Forschungsarbeit fand sowohl in den unternehmenseigenen Laboren in Eindhoven statt als auch an verschiedenen Universitäten (besonders der TU Eindhoven), wobdi festangestellte Philipsforscher auf Konzernkosten als Teilzeitprofessoren an die Hochschulen abgeordnet wurden. Diese Gemeinschaftsforschung wurde auch mit Mitteln der EU gefördert. Gelegentlich nehmen Kooperationen zwischen Wirtschaft und öffentlichen Forschungseinrichtungen auch feste institutionelle Formen an wie etwa im Falle des Instituts für Zuckerrübenforschung, das vom Verein der Zuckerindustrie getragen wird und als An Institut der Universität Göttingen operiert. Diese Form der Kooperation ist allerdings in Deutschland eher auf besonders auftragsgebundene Forschung beschränkt .7' Neben solchen Verbindungen zwischen Institutionen ist auch die Ebene individueller Wissenschaftler für das Zusammenspiel zwischen Wirtschaft und öffentlicher Forschung relevant. Einzelne Forscher sitzen in wissenschaftlichen Beiräten von Privatunternehmen oder schließen Beraterverträge mit diesen ab. Die relative Bedeutung dieser Kooperationsdimension in bestimmten Forschungsfeldern macht eine in den späten 1990er Jahren an US Universitäten durchgeführte Studie deutlich: Etwa die Hälfte der befragten Lebenswissenschaftler gab an, als Berater für die Industrie tätig gewesen zu sein, während nur insgesamt ein Viertel derselben Befragten Forschungsmittel aus der Industrie erhalten hatte.
Die stärkere Verzahnung von Wirtschaft und akademischer Forschung wird von Interessen sowohl der Wirtschaftsunternehmen als auch der Universitäten und anderen öffentlichen Forschungsorganisationen vorangetrieben, wie Peter Weingart erläutert: Aufseiten der Unternehmen haben die Globalisierung und die gestiegenen Renditeerwartungen einen höheren Kostendruck erzeugt, auf den sie vielfach mit der Reduzierung hauseigener Forschungskapazitäten und deren Konzentration auf kurzfristige Produktentwicklungsziele reagiert haben. Um trotzdem weiterhin den Kontakt zu neuesten Forschungsentwicklungen und neu auftauchenden Innovationschancen zu haben, richten sie ihr Interesse auf die For-schungsinfrastruktur öffentlicher Forschungsinstitute und Universitäten. Diese sehen sich ihrerseits einer sinkenden Grundfinanzierung und steigenden Erwartung an selbständige Einwerbung von Drittmitteln gegenüber; im Fall der Universitäten tritt außerdem ein gewachsener Ressourcenbedarf im Zuge der Entwicklung zur Massenuniversität hinzu. Sie müssen sich gegenüber den öffentlichen Geldgebern legitimieren, die in zunehmendem Maße von Universitäten und öffentlichen Forschungsinstituten eine Orientierung auf ökonomischen Nutzen erwarten. Zusammenarbeit mit der Wirtschaft kann sowohl Legitimation als auch zusätzliche Finanzquellen bieten.
Über diese Eigeninteressen beider Seiten hinaus hat auch die Politik gezielte Maßnahmen ergriffen, um eine stärkere Verschränkung von Wirtschaft und Wissenschaft zu bewirken. Ziel ist es dabei, wissenschaftliche Erkenntnisse schneller, häufiger und erfolgreicher in neue oder verbesserte Produkte und Leistungen und somit in wirtschaftlichen Erfolg zu verwandeln. Die wissenschaftspolitische Auffassung, dass dazu gezielte Maßnahmen erforderlich sind, verrät das verlorengegangene Vertrauen in das »lineare Modell“ dem zufolge wissenschaftliche Innovationen auf Grundlagenebene über Zwischenschritte mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu technischem Fortschritt führen sollten. Die konkreten politi-schen Maßnahmen umfassen Änderungen im Patentrecht, um den Hochschulen und anderen akademischen Instituten die Verwertung von aus ihrer Forschung entspringendem geistigen Eigentum zu erleichtern und sie so selbst zu mehr unternehmerischer Aktivität zu motivieren, die Gründung von Transferstellen, Patent und Verwertungsagenturen, die Professoren unter anderem bei der Anmeldung von Patenten und der Gründung eigener Unternehmen (Start ups) helfen sollen, die Einrichtung von Technologiezentren (wie beispielsweise dem Technologiepark Berlin Adlershof), in de-nen öffentliche Forschungseinrichtungen und private Unternehmen gemeinsam angesiedelt werden, und die gezielte Auflage von Förderprogrammen, in deren Rahmen Forschungskooperationen von akademischen Institutionen mit der Wirtschaft aus öffentlichen Mitteln unterstützt werden (wie zuletzt etwa bei den Exzellenzclustern im Rahmen der Exzellenzinitiative und bei den »Innovationsallianzen« des Bundesforschungsministeriums).
Man darf insgesamt vermuten, dass der Einfluss wirtschaftlicher Interessen auf die akademische Forschung größer ist, als etwa die 14,1 prozentige finanzielle Beteiligung an der deutschen Universitätsforschung es nahelegen würde. Die politischen Maßnahmen zur Förderung des Wissenstransfers machen deutlich, dass auch öffentliche Mittel in ihrer Verwendung gezielt auf wirtschaftliche Interessen ausgerichtet werden. Überdies bewirkt bereits die Aussicht auf lukrative Kooperationen und die Einsicht in deren politische Erwünschtheit vielfach eine Orientierung der Forschungsagenda öffentlicher Einrichtungen an den (realen oder vermuteten) Interessen der Industrie. Von dieser Beeinflussung sind allerdings bei weitem nicht alle Bereiche der wissenschaftlichen Forschung in gleichem Maße betroffen. Berührt sind in besonderer Weise die Ingenieurswissenschaften, die Biowissenschaften einschließlich der Medizin und, in etwas geringerem Maße und auf einige Teilgebiete beschränkt, die physikalischen Wissenschaften.
Der wachsende Einfluss wirtschaftlicher Interessen auf die Wissenschaft, der aus den geschilderten Entwicklungen resultiert, ist in vielerlei Hinsicht kritisiert worden: weil die Gesamttagesordnung der Forschung durch sie verzerrt und die Grundlagenforschung ebenso schleichend marginalisiert werde wie manches anwendungsorientierte Forschungsgebiet, das sich für die wirtschaftliche Ausbeutung über Patente nicht eignet; weil sie zu Interessenkonflikten und zum Verlust der Unparteilichkeit der Wissenschaft führe (beispielsweise bei der Beurteilung der Wirksamkeit und Unschädlichkeit neuartiger Therapien); weil sie die Kultur der offenen Kommunikation der Wissenschaften bedrohe, indem Geheimhaltung und intellektuelle Eigentumsrechte im Forschungsalltag mehr und mehr Bedeutung erlangten; weil sie einzelnen Akteuren erlaubten, öffentliche Güter für private Zwecke zu appropriieren; weil sie die epistemischen Ambitionen der Wissenschaften dämpfe, die im Hinblick auf konkrete Anwendungen nur noch nach Erkenntnissen suchen würden, die sich in bestimmten, durch die beabsichtigte Anwendung definierten Kontexten verlässlich replizieren ließen, und nicht mehr nach übergreifenden Erklärungen und Generalisierungen. Ich möchte mich jedoch in diesem Abschnitt nur auf eine bestimmte kritische Frage konzentrieren: Stellt die Kommerzialisierung der akademischen Forschung eine Einschränkung oder Bedrohung der Forschungsfreiheit dar?
Stellt man diese Frage, dann geht es im Wesentlichen um den Einfluss wirtschaftlicher Interessen auf das öffentliche Gemeinschaftsunternehmen Wissenschaft. Behindern die ökonomischen Einflüsse diejenigen Freiheiten, durch welche dieses Gemeinschaftsunternehmen idealerweise charakterisiert sein sollte? Es geht also im Kern bei dieser aktuellen Nichtlinearitätsdebatte nicht um die private Forschungsfreiheit, so dass das Argument aus Autonomiegründen hier weitgehend wirkungslos bleibt. Im Allgemeinen erwachsen ja auch aus dem Engagement wirtschaftlicher Unternehmen in der Forschung ob in der unternehmenseigenen oder der akademischen dem Einzelnen keine Hindernisse, aus eigenen Mitteln nach Erkenntnissen zu streben, die für ihn bedeutsam sind. Die aus Autonomiegründen begründbare Freiheit der Ziele ist also prima facie nicht betroffen.
Ich werde mich daher in diesem Fall sogleich auf die erkenntnistheoretisch und politisch begründbaren Formen der Forschungsfreiheit konzentrieren. Zuvor soll aber zumindest erwähnt sein, dass die Beobachtung, das Wirtschaftsengagement in der Forschung behindere die private Forschungsfreiheit des Einzelnen nicht, bei genauerem Hinsehen in einem Punkt eingeschränkt werden muss. Eine Folgeerscheinung der Ökonomisierung der Forschung ist die zunehmende Bedeutung von Patenten in der Forschung. Durch die erwähnten Patentrechtsänderungen sind auch die Universitäten in wachsendem Maße daran interessiert, sich intellektuelles Eigentum zu sichern. So erhielt die Stanford University 198o das CohenBoyer Patent für das in der gesamten Gentechnik bedeutsame Verfahren der Trennung von Gensequenzen (gene splicing). Im selben Jahr entschied der oberste Gerichtshof der USA im berühmten Verfahren Diamond gegen Chakrabarty, dass ein menschengemachter lebendiger Mikroorganismus patentierbar sei. Seitdem hat das U.S. Patent and Trademark Office auch begonnen, Patente auf bestimmte Nukleotidsequenzen der DNA, also Gene, zu erteilen. Universitäten und andere Akteure haben seither zahllose Patente auf Dinge angemeldet, die als Mittel und Werkzeuge zur wissenschaftlichen Forschung (besonders im Bereich der Biowissenschaften) notwendig sind: auf Biomaterialien wie Stammzelllinien, Mikroorganismen und Labormäuse, auf Techniken wie das gene splicing, auf Datenbanken und nicht zuletzt auf tausende Gene.
Diese neuen Patente stellen prinzipiell nicht nur eine Begrenzung der Freiheit der Mittel, sondern auch der Freiheit der Ziele dar, und schränken damit theoretisch auch die durch das Argument aus Autonomiegründen geschützte kognitive Selbständigkeit ein. Denn sie erlauben es den Eigentümern, andere von der freien Nutzung ihres intellektuellen Eigentums und somit von der Durchführung bestimmter Experimente und Studien auszuschließen. Zwar gab es eine gewisse Tradition, bei akademischer Forschung (ohne kommerzielle Interessen) von der Durchsetzung intellektueller Eigentumsrechte abzusehen, und es gibt Hinweise darauf, dass nicht wenige Forscher in ihrer Praxis regelmäßig den Patentschutz für bestimmte Forschungsmittel einfach ignorieren. Doch sind in jüngerer Zeit wegen patentgeschützter Forschungsmittel auch gegen akademische Forscher bereits Maßnahmen bis hin zur Strafverfolgung ergriffen worden.

Ich spreche trotzdem nur von einer »prinzipiellen« und »theoretischen« Begrenzung der kognitiven Autonomie, weil es sich bei den betroffenen Forschungsfeldern um solche Gebiete handelt, in denen aus kontingenten Gründen (wegen des erforderlichen Aufwands) ohnehin nur für das gemeinschaftlich getragene Wissenschaftsunternehmen Aussichten bestehen, zu Einsichten zu führen, die für unsere kognitive Selbständigkeit bedeutsam sind. Es bleibt also dabei, dass in dieser Forschungsfreiheitsdebatte die faktisch entscheidenden Faktoren (auf die ich mich konzentrieren möchte) durch die erkenntnistheoretische und die politische Begründung beschrieben sind, auch wenn in Form der neuen intellektuellen Ei-gentumsrechte von der Kommerzialisierung auch eine prinzipielle Einschränkung der kognitiven Autonomie des Einzelnen ausgeht.
Eine faktische Beschränkung bedeuten die Patente auf Forschungsmittel dennoch, denn auch und gerade im Rahmen der erkenntnistheoretisch begründbaren Mikroautonomie der Forscher wirken sie sich aus: Sie bedeuten eine Einschränkung der methodologischen Freiheit der Forscher, da sie die Verwendung bestimmter Forschungsmittel zumindest verteuern (sowohl aufgrund von Lizenzkosten als auch hohen Transaktionskosten, die durch aufwendige juristische Überprüfungen und Verhandlungen über Rechte entstehen) und infolgedessen oft ganz unmöglich machen können. Ein Testfall für diese zunehmenden Schwierigkeiten sind heute schon die ressourcenarmen Forschungsinstitute in Entwicklungs- und Schwellenländern.
Diese Einschränkungen der Forschungsfreiheit und die damit vermutlich einhergehende Reduzierung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse sind der Logik des neuen Patentregimes zufolge in Kauf zu nehmen, weil sich dadurch andererseits eine schnellere und effizientere Umsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in ökonomisch erfolgreiche Produkte ergibt. Weniger Wissen, aber trotzdem mehr baconischer Nutzen, ist demnach das Versprechen der Privatisierung von Forschungsmitteln. Ob sie das Versprechen einlöst, ist wegen des impliziten kontrafaktischen Konditionals schwer zu beurteilen. Da Patente auf Forschungsmittel nicht nur akademischen Forschern, sondern auch Unternehmensforschern und Produktentwicklern das Leben schwer machen, sind daran wiederholt Zweifel angemeldet worden. Überdies wäre dieser Vorteil nur dann gegen eine Einschränkung der Forschungsfreiheit abwägbar, wenn die vermehrte Bereitstellung neuer oder verbesserter Produkte sich auch als merklicher Vorteil für die politische Gemeinschaft insgesamt erweist, die im Gegenzug auf ein Stück Forschungsfreiheit verzichtet. Besonders bei der Patentierung von Genen ist gerade dies sehr fraglich, weil sie nicht nur Einschränkungen bei der Forschung mit sich bringt, sondern selbst im Fall, dass am Ende verbesserte therapeutische oder diagnostische Methoden bis zur Marktreife entwickelt werden, die starke Monopolstellung der Anbietet für das Gesundheitswesen stark erhöhte Kosten und in einigen Fällen begrenzte Verfügbarkeit bedeutet. Dass die erkenntnistheoretisch begründbare Forschungsfreiheit durch den zunehmenden Einfluss intellektueller Eigentumsrechte in der Forschung beeinträchtigt ist, steht jedenfalls fest, wenn auch schwer zu beurteilen bleibt, ob eine Abwägung im Sinn des Gemeinwohls diese Einschränkung rechtfertigt oder nicht.
Weitere Probleme treten hervor, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass die erkenntnistheoretisch begründbare Forschungsfreiheit untrennbar mit dem Prinzip freier und offener Interaktion und Kommunikation innerhalb der Forschungsgemeinschaften verbunden ist.9' Diese ist in kommerzialisierter Forschung häufig eingeschränkt. Patente sind hier ein zweischneidiges Schwert, da sie zwar einerseits selbst mit einer Veröffentlichungspflicht einhergehen, aber andererseits die Hoffnung auf ein Patent häufig zumindest für eine gewisse Zeit die Veröffentlichung von Ergebnissen verhindert. Außerdem sind nicht alle ökonomisch wertvollen Erkenntnisse durch Patente schützbar, so dass auch die Sicherung des exklusiven Zugriffs auf Wissen durch Geheimhaltung eine Rolle in der kommerzialisierten Forschung spielt. Zusätzlich ist die offene akademische Kommunikation in Fällen eingeschränkt, in denen das Öffentlichwerden von Informationen den kommerziellen Interessen eines Sponsors zuwiderläuft. Ein wohldokumentiertes Beispiel dafür ist der Fall von Betty Dong und ihren Kollegen an der University of California, San Francisco (UCSF). Sie hatten in einer klinischen Studie ein Markenpräparat zur Behandlung von Schilddrüsenunterfunktion mit vier Typen von Generika verglichen und dabei die Bioäquivalenz aller Präparate festgestellt. Auftraggeber der Studie war allerdings der Hersteller des Markenpro-dukts, der nun mit allen Mitteln versuchte, die Veröffentlichung zu verhindern. Zunächst überzogen Unternehmensvertreter Dong mit Vor würfen angeblicher Mängel der Studie. Nachdem dies die Forscher nicht davon abhielt, eine Publikation anzustreben, und diese im renommierten Journal of the American Medical Association angenommen worden war, drohte das Unternehmen, die Forscher und die UCSF zu verklagen (die vertraglichen Abmachungen machten die Veröffentlichung der Ergebnisse von einer Zustimmung des Unternehmens abhängig). Es änderte seine Haltung erst, nachdem die Geschichte öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen begonnen hatte bis hin zur Seite eins des Wall Street Journal. Erst sieben Jahre nach Abschluss der Studie konnten ihre Ergebnisse daraufhin 1997 endlich veröffentlicht werden. Einschränkungen der Kommunikationsfreiheit in den Wissenschaften, die sich über verschiedene Mechanismen auch für akademische Forschung aus deren zunehmender Kommerzialisierung ergeben, können eine ebenso empfindliche Beeinträchtigung der gemeinschaftlichen Wissensproduktion bedeuten wie Einschränkungen methodologischer Freiheiten.
Während Geheimhaltung und intellektuelle Eigentumsrechte an Forschungsmitteln also zu Beschränkungen der epistemologisch bedeutsamen Mikroautonomie der Forscher führen, kann in einer anderen Hinsicht die erkenntnistheoretische Begründung der Forschungsfreiheit nicht für eine Kritik der Kommerzialisierung ins Feld geführt werden: Der wachsende Einfluss der Wirtschaft auf die Forschungstagesordnung, also auf die Auswahl der Fragestellungen, an denen auch in der akademischen Forschung überhaupt gearbeitet wird, stellt (im Allgemeinen) keine Einschränkung der erkenntnistheoretisch begründbaren Forschungsfreiheit dar. Denn wie wir gesehen haben, beinhaltet diese nur in sehr geringem Umfang auch eine Freiheit in der Wahl der Fragestellung. Weder die entscheidenden methodologischen Freiheiten der Forscher noch der begrenzte Spielraum bei der Wahl der Fragestellung, die für die wirkungsvollen und freien Mechanismen der kognitiven Arbeitsteilung erforderlich sind, werden dadurch bedroht, dass sich die großen Forschungsziele nach den Interessen der Wirtschaft richten.
Das bedeutet keineswegs, dass an der Ausrichtung der Forschungstagesordnung an wirtschaftlichen Interessen nichts auszusetzen wäre, sondern nur, dass sie als eine Bedrohung der Freiheit wissenschaftlicher Forschung falsch verstanden ist. Denn bei der erkenntnistheoretisch begründbaren Forschungsfreiheit geht es darum, durch Freiheiten der Forschung eine möglichst effiziente Bereitstellung desjenigen Wissens sicherzustellen, das für die Gemeinschaft von großem Wert ist. Dass dies nicht zwangsläufig mit denjenigen Erkenntniszielen zusammenfallen muss, die sich aus der inneren Dynamik der Disziplinen ergeben, hat sich in Teil II dieses Buches gezeigt.
Verteidiger der Kommerzialisierung akademischer Forschung argumentieren gerade, diese sei dazu geeignet, den aus der wissenschaftlichen Wissensproduktion hervorgehenden gesellschaftlichen Nutzen zu vergrößern. Die Wissenschaft werde aus dem Elfenbeinturm herausgelockt und in eine sinnvolle Ressource für technischen Fortschritt und die Erschaffung von wissensbasiertem ökonomischen Wachstum transformiert. Implizit setzt diese Wertung voraus, dass die Mechanismen des Marktes dafür sorgen werden, dass durch die Kommerzialisierung die Wissenschaften auf diejenigen Erkenntnisziele ausgerichtet werden, die für die Gesellschaft insgesamt den größten Wert versprechen. Aus gleich mehreren Gründen ist diese Annahme jedoch nicht glaubwürdig. Wie wir in Kapitel 7 gesehen haben, ist Wissen zumindest im Hinblick auf seinen nichtbaconischen Nutzen ein öffentliches (nämlich nichtausschließbares und nicht rivales) Gut; deshalb kann seine Verfügbarmachung nicht über Marktmechanismen erfolgen. Der Wert wissenschaftlichen Wissens für unser Verständnis der Welt sowie als Quelle von Freude und ästhetischem Genuss wird denn auch bei fast allen Verteidigungen der Kommerzialisierung systematisch ausgeblendet. Diese Wertdimension zu vernachlässigen kann jedoch zu einem empfindlichen Wertverlust der wissenschaftlichen Wissenserzeugung für die Gesellschaft führen.
Doch selbst wenn man sich auf den baconischen Nutzen beschränkt, kann die Annahme nicht überzeugen, die wirkungsvollste Ausrichtung der Forschungsagenda auf das gesellschaftliche Wohl würde durch die Mechanismen des Marktes vermittelt. Zwar lässt sich baconisch nützliches Wissen in manchen Fällen durch Patente in ein ausschließbares Gut verwandeln. Doch dies gilt eben nicht für alle Formen baconisch nützlichen Wissens, und es ist keineswegs glaubhaft, dass die für das Wohl aller bedeutsamsten Fälle nützlichen Wissens durchweg zu den patentierbaren gehören. In der bereits stark kommerzialisierten medizinischen Forschung beispielsweise ist schon eine erhebliche Verschiebung der Forschungs-agenda hin zu solchen Therapien zu beobachten, die sich über Patente vermarkten lassen. Auch deshalb spielen Medikamente eine so große Rolle in der heutigen Medizin. Andere Formen therapeutisch relevanten Wissens, wie etwa Wissen über Ernährungsweisen oder Formen der Krankengymnastik, können nicht effektiv in geistiges Eigentum verwandelt werden und sind deshalb für eine rein auf kommerzielle Interessen ausgerichtete Forschung vollkommen uninteressant. Da die Vorbeugung und Behandlung von Erkrankungen durch diese nichtkommerzialisierbaren Therapien wirkungsvoller und billiger sein kann als die Pharmakotherapie, ist dem baconischen Nutzen durch die Kommerzialisierung nicht automatisch am besten gedient.
Und sogar wenn man sich auf diejenigen Formen baconisch nützlichen Wissens beschränkt, die sich patentieren und damit über Marktmechanismen verfügbar machen lassen, ist nicht gesagt, dass diese Mechanismen auch die wünschenswerteste Verteilung der kognitiven Arbeit auf verschiedene Erkenntnisziele garantieren. Denn der Markt ist keine Demokratie; Märkte bedienen die Interessen von Menschen nur in Proportion zu ihrer jeweiligen Kaufkraft. Ein augenfälliges Symptom dieses Umstands im Bereich der kommerzialisierten Forschung ist die als »10/90 gap« bekannte Tatsache, dass zur Bekämpfung von Krankheiten, die in Entwicklungsländern vorherrschen und geschätzte 90 Prozent der Gesundheitsprobleme der Welt ausmachen, nur etwa zehn Prozent der weltweiten Forschungsressourcen aufgewendet werden. Sogar eine so weit verbreitete und schwere Erkrankung wie Malaria bietet den Pharmaunternehmen beispielsweise einen weniger attraktiven Markt als manches Wohlstandsleiden, weil die an Malaria Erkrankten typischerweise über keine nennenswerte Kaufkraft verfügen. Mit weniger drastischen Folgen funktioniert derselbe Mechanismus selbstverständlich auch innerhalb der Industrieländer. Bestimmte Interessen potenzieller Automobilkäufer an technischen Innovationen können über Marktmechanismen gut an die Wissenschaft vermittelt werden; analoge Interessen der den öffentlichen Nahverkehr nutzenden Rentner eher weniger gut. Da in der akademischen Forschung noch immer ganz überwiegend aus allgemeinen Steuern stammende öffentliche Mittel zum Einsatz kommen, ist es auch deshalb sehr zweifelhaft, ob eine angemessene Verwendung dieser Mittel im Sinne des Gemeinwohls durch eine Ausrichtung der Forschungsziele auf kommerzielle Interessen erreicht werden kann.
Eine Wissenschaft im Dienst des öffentlichen Interesses ist im Hinblick auf ihre Ausrichtung auf bestimmte Erkenntnisziele deshalb sowohl von der an kommerziellen Zielen orientierten Forschung zu unterscheiden als auch von derjenigen Forschungsagenda, die sich ergeben würde, wenn man die Wissenschaften in ihrer Zielsetzung sich selbst überlassen würde. Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis gelangt auch Martin Carrier, indem er darauf hinweist, dass Einseitigkeiten der anwendungsdominierten Forschung („application driven research«) nicht durch eine Betonung rein epistemischer, also in ihren Zielen der disziplinären Eigendynamik folgender Forschung (»epistemic research«) ausgeglichen werden könne, sondern dass zur Herstellung der Balance eine dritte, von beiden verschiedene Wissenschaft im öffentlichen Interesse (»science in the public interest«) erforderlich sei. Der Einfluss wirtschaftlicher Interessen auf die Zielsetzungen innerhalb des öffentlichen Forschungsunternehmens lässt sich also mit guten Gründen wegen der daraus entstehenden Einseitigkeiten kritisieren nicht als eine Bedrohung der erkenntnistheoretisch begründbaren Forschungsfreiheit, aber als eine Gestaltung der Forschungstagesordnung, die dem Wert wissenschaftlichen Wissens für das allgemeine Wohl nicht in seiner ganzen Bandbreite gerecht wird.
Bleibt noch die Frage, ob die Kommerzialisierung der akademischen Forschung als Einschränkung oder Bedrohung der politisch begründbaren Forschungsfreiheit angesehen werden muss. Immerhin gehen die beschriebenen Veränderungen, wie gezeigt, zum Teil auf gezielte Maßnahmen der Regierungen im Zuge einer Technologietransferpolitik zurück. Jedoch sind diese Maßnahmen (wie etwa die Änderung des Patentrechts oder die Gründung von Technologieparks) zwar geeignet, eine Verschiebung der Forschungsagenda zu bewirken. Sie scheinen aber nicht die Art von Maßnahmen zu sein, durch die eine politische Gewalt die Wissenschaft in Richtung bestimmter Ergebnisse lenken kann. Insofern stellen sie keine Gefahr einer Unterminierung der Wissensgrundlage des demokratischen Prozesses dar, wie sie durch die Trennung der Wissenschaften von den politischen Gewalten verhindert werden soll.
Allerdings hat sich in Teil III dieses Buches gezeigt, dass aus der politischen Begründung auch eine Freiheit der Forschung von Be-einflussungen durch solche Akteure folgen muss, die in Macht und Möglichkeiten den politischen Akteuren nahe oder gleichkommen. Für einige Wirtschaftsunternehmen und verbände trifft dies zu. Ihr Einfluss auf die kommerzialisierte Forschung scheint in einigen Fällen durchaus dazu zu führen, dass die Wissenschaft auch im Hinblick auf ihre Ergebnisse beeinflusst wird. So stellten die Mediziner Frederick vom Saal und Claude Hughes 2005 einen bemerkenswerten Unterschied zwischen den Ergebnissen von einerseits öffentlichen und andererseits durch die Wirtschaft finanzierten Tierversuchen zu Gesundheitsauswirkungen von geringen Dosen des Plastik Weichmachers Bisphenol A fest: Während 90 Prozent der öffentlich finanzierten Studien signifikante Effekte vermeldeten, taten dies null Prozent der industriefinanzierten. (Es stellte sich später heraus, dass fast alle Industriestudien auf eine bestimmte Art von Laborratte zurückgegriffen hatten, die besonders unempfindlich auf Östrogen reagiert. Die gesundheitsschädigenden Eigenschaften von Bisphenol A werden schon seit langem mit seiner chemischen Ähnlichkeit zu Östrogen in Verbindung gebracht.) Einflüsse auf die Ergebnisse der Forschung lassen sich auch insbesondere bei klinischen Studien zu Medikamenten nachweisen: 1986 untersuchte Richard Davidson 107 in fünf führenden Fachzeitschriften im Jahr 1984 veröffentlichte Vergleichsstudien. Es zeigte sich, dass 43 Prozent der Studien, die im Ergebnis die neue Therapieintervention gegenüber der herkömmlichen als überlegen darstellten, von der Pharmaindustrie gesponsert waren, von den Studien, die zum Vorteil der herkömmlichen Therapie ausgingen, aber nur 13 Prozent. Seither haben zahllose weitere Studien diesen funding effect mit zum Teil noch stärkeren statistischen Korrelationen bestätigt. Weitere Beispiele der Einflussnahme mächtiger wirtschaftlicher Akteure auf die Ergebnisse der Forschung stellen etwa die starke Einmischung der Tabakindustrie in Forschungen zu Gesundheitsgefahren des Passivrauchens und die Beeinflussung epidemiologischer Untersuchungen zur Schädlichkeit von Vinylchlorid durch die Chemical Manufacturers Association dar.
Nicht nur biomedizinische Forschung ist von solchen Einflüssen betroffen. Wie James R. Brown bemerkt, engagieren sich Wirtschaftsunternehmen und ihre Verbände auch stark in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung etwa um die negativen Auswirkungen hoher Besteuerung auf die Produktivität zu erforschen. Ein weiterer Fall ist die Schätzung der ökonomischen Kosten von Gesetzesvorhaben, durch die den Unternehmen unliebsame Regulierungen auferlegt würden. Die Vertreter der entgegengesetzten Interessen, wie Umwelt und Sozialverbände, verfügen nicht annähernd über vergleichbare Ressourcen, um etwa Studien über die positiven gesellschaftlichen Folgen der von ihnen favorisierten politischen Maßnahmen oder über die schädigenden Auswirkungen von Armut auf die Entwicklung von Kindern zu finanzieren.
Politische Relevanz besitzen alle genannten Beispiele. Das Wissen, das in diesen Fällen aus der Forschung in politisch relevante Entscheidungsprozesse einfließt, lässt sich auch hier als Regulierungswissen bezeichnen. Allerdings macht bei einigen der hier genannten Forschungsbereiche wie klinische Pharmakologie, Toxikologie und Epidemiologie, anders als beim früheren Beispiel der Stammzellforschung, die Erzeugung von Regulierungswissen einen erheblichen Anteil der Gesamtforschung aus. Dabei wird das wissenschaftliche Wissen am Ende nicht nur zur Grundlage von eher administrativen Einzelentscheidungen wie der Zulassung eines bestimmten Medikaments. In aggregierter Form geht es auch in die Beurteilung größerer politischer Fragen ein, etwa der, ob die hohen Kosten für neu patentierte Medikamente, die das Gesundheitssystem stark belasten, durch einen entsprechend gestiegenen therapeutischen Wert der neuen Wirkstoffe gerechtfertigt sind.
Bei der Ausbildung ihrer politischen Präferenzen in Fragen der Wirtschafts , Gesundheits-, Umwelt und Industriepolitik sind Bürger auf verlässliche wissenschaftliche Informationen angewiesen. Ihre Befähigung, Präferenzen auszubilden, die ihre Werte und Interessen in angemessener Weise widerspiegeln, wird von politischen Einflüssen auf die Richtung von Forschungsergebnissen bedroht. Dazu können auch Einflüsse gehören, die von Wirtschaftsunternehmen und verbänden ausgehen, sofern diese in den entsprechenden politischen Fragen selbst Partei sind und in Macht und Möglichkeiten den politischen Gewalten nahekommen. Bei Unternehmen, deren Jahresumsätze den Bruttoinlandsprodukten der kleineren US Bundesstaaten entsprechen, wie es beispielsweise bei großen Zigaretten und Pharmakonzernen der Fall ist, kann davon durchaus die Rede sein.
In Bereichen der kommerzialisierten akademischen Forschung, die sich mit der Herstellung von Regulierungswissen befassen (und dies betrifft erhebliche Bereiche der von der Kommerzialisierung berührten Wissenschaften), kann man daher mit guten Gründen von einer Bedrohung der politisch begründbaren Forschungsfreiheit sprechen. Die Antwort muss auch hier darin bestehen, öffentlichen Forschungseinrichtungen (wieder) eine Forschungsagenda zu geben, die sich am öffentlichen Interesse orientiert. In zumindest einigen Bereichen sind die Einseitigkeiten bereits so stark, dass dafür zunächst, eine gründliche Entflechtung von Forschung und Wirtschaft stattfinden müsste.
Im Ergebnis lässt sich durchaus davon sprechen, dass von der Kommerzialisierung der akademischen Forschung Einschränkungen der Forschungsfreiheit ausgehen. Die Beeinflussung von Ergebnissen durch Forschungssponsoren im Bereich des Regulierungswissens schränkt die politisch begründbare Forschungsfreiheit ein, während die erkenntnistheoretisch begründbare Mikroautonomie der Forscher teilweise durch Entwicklungen auf dem Gebiet intellektueller Eigentumsrechte und Einschränkungen der akademischen Offenheit bedroht sind, die mit der Kommerzialisierung einhergehen. Dass sich insgesamt die Zielsetzungen der Wissenschaft durch die Kommerzialisierung verschieben, wäre da-gegen, wiewohl mit guten Gründen kritisierbar, als Einschränkung der Forschungsfreiheit nicht richtig beschrieben. Vielmehr erinnert es an das Erfordernis, die öffentliche Wissenschaft gezielt auf öffentliches Interesse und allgemeines Wohl auszurichten.


13.5 Schluss
Nach Betrachtung der drei konkreten Debatten mag sich die Frage stellen: Was ist das noch für eine Freiheit, die abgewogen werden muss gegen konkurrierende gesellschaftliche Werte und Ziele? Was ist das für eine Freiheit, die in ihren wesentlichsten Hinsichten einer Zuerkennung bedarf, auf der Grundlage einer Bestimmung von Wert und Relevanz der jeweiligen Forschung für diejenige politische Gemeinschaft, in der die Forschungsfreiheit akzeptiert und garantiert werden soll?
Doch genau das ist die Forschungsfreiheit, die auf der Basis ihrer komplexen philosophischen Grundlagen etabliert und gerechtfertigt werden kann. Sie stimmt nicht mit dem juristischen Status überein, den die wissenschaftliche Forschung in irgendeinem bestimmten Rechtssystem besitzt (obgleich die hier diskutierten Begrenzungen in manchen Punkten mit juristisch anerkannten Grenzen der Forschungsfreiheit übereinstimmen). Die Grenzen der Forschungsfreiheit im Sinne dieses Buches und das Erfordernis der verschiedenen Abwägungen zu ihrer genauen Bestimmung sind in den inhärenten Begrenzungen ihrer philosophischen Grundlagen angelegt: Die kognitive Autonomie des Menschen ist kein vollständiges und absolutes moralisches Ideal. Wissen auch wissenschaftliches Wissen ist kein Wert an sich. Und nicht jede Forschungshandlung ist für die Befähigung der Bürger zur demokratischen Selbstregierung unabdingbar.
Dennoch: Alle in diesem Buch behandelten Begründungen der Forschungsfreiheit haben auch ihre Stärken. Sie verweisen auf wichtige Verbindungen zwischen den Praktiken freier wissenschaftlicher Forschung und den Dingen, die wir wertschätzen oder wertschätzen sollten. Zu diesen Dingen gehören nicht nur materieller Wohlstand, Gesundheit und die übrigen mit der Hoffnung auf baconischen Nutzen verknüpften Ziele. Zu diesen Dingen gehören Genuss und Freude an der Erkenntnis unserer Welt und unserer Stellung in ihr. Zu diesen Dingen gehört auch unsere Fähigkeit, unsere eigene Konzeption vom gelungenen Leben auf reflektierte Weise zu entwickeln und zu verfolgen. Zu diesen Dingen gehört ebenso die Pflege einer epistemischen Kultur der Unvoreingenommenheit, der neugierigen Offenheit und der besonnenen Urteilszurückhaltung, bis ausreichend Belege vorliegen. Und zu diesen Dingen gehört die Ermächtigung von Bürgern eines politischen Gemeinwesens, auf wohlinformierte Weise politische Präferenzen ausbilden zu können.
Die unterschiedlichen Arten und Weisen, auf welche die verschiedenen Begründungen die Verbindungen zu diesen bedeutenden Gütern herstellen, bedingen Unterschiede in Bedeutung und Gewicht der durch sie jeweils etablierbaren Forschungsfreiheitsformen für konkrete Kontroversen. Dabei lassen sich die drei Begründungen nicht in eine einfache Reihenfolge entsprechend ihrer »Stärkegrade« bringen dazu sind ihre Abweichungen hinsichtlich der verschiedenen Dimensionen von Freiheit zu komplex. Die private Forschungsfreiheit, die durch das Argument aus Autonomiegründen gestützt werden kann, ist hinsichtlich der von ihr potenziell abgedeckten Forschungsinhalte unbegrenzt, dafür kann sie aber nur als eine individuelle Freiheit der Ziele verstanden werden. Selbst hinsichtlich dieser sind Begrenzungen nach Abwägung gegen die Autonomie anderer und gegen bedeutende Werte, die sich nicht auf persönliche Autonomie zurückführen lassen, möglich. Die erkenntnistheoretische Begründung kann dagegen auch eine Freiheit der Mittel rechtfertigen, bei der einzelne Forscher (und Forschungsgruppen) in methodologischer Freiheit und bedingter Freiheit der Fragestellung auch auf (durch die politische Gemeinschaft verfügbar gemachte) Ressourcen zurückgreifen dürfen sollten. Allerdings ist diese (ebenfalls individuell getragene) Mikroautonomie der Forscher in noch stärkerem Maße abzuwägen als die private Forschungsfreiheit, denn ihr Wert ist immer nur relativ zum Wert der jeweiligen Erkenntnisziele für die politische Gemeinschaft. Die politische Begründung ist die einzige, bei der auch ein kollektives Freiheitssubjekt in Frage kommt. Die durch sie begründbare Trennung der Wissenschaft von den (anderen) politischen Gewalten kann so verstanden werden, dass es ganze wissenschaftliche Disziplinen sind, die unabhängig genug sein müssen, um eine Lenkung der Forschung auf bestimmte Ergebnisse hin auszuschließen. Dazu ist auch eine gewisse Freiheit der Mittel erforderlich, die jedoch nur proportional zur politischen Relevanz des jeweiligen Forschungsbereichs gewährt werden kann. Bei Abwägungen und Begrenzungen politisch begründeter Forschungsfreiheit (insbesondere im Sinne einer bloßen Freiheit der Ziele) ist besondere Vorsicht geboten; grundsätzlich möglich sind sie aber durchaus insbesondere, wenn die Forschungsfreiheit in Konkurrenz zu anderen Voraussetzungen des demokratischen Prozesses oder zu individuellen Rechten tritt.
Die Forschungsfreiheit, so hat sich gezeigt, hat in allen ihren Formen eine instrumentelle Bedeutung für wichtige Güter. Einschränkungen auch dort, wo sie nach Abwägung aller relevanten Faktoren gerechtfertigt sind gehen oft zu Lasten eines oder mehrerer dieser Güter. Leichtfertig aufgegeben werden sollte Forschungsfreiheit deshalb nie.


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